"Dieser Volksaufstand veränderte das Land"

Moderation: Christine Deggau · 23.10.2006
Der Schriftsteller György Dalos hat den Volksaufstand in Ungarn 1956 als große Wende bezeichnet. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes habe es im Rahmen der kommunistischen Diktatur kleine Freiheiten gegeben und Zugeständnisse an Konsumwünsche. Zum Jahrestag des Aufstands betonte Dalos jedoch, das Blutvergießen hätte verhindert werden können.
Deggau: Heute auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 23. Oktober 1956, zogen Schriftsteller- und Studentenausschüsse in einer Solidaritätsdemonstration für die Reformbewegung in Polen durch Budapest. Innerhalb weniger Stunden aber entwickelte sich dieser friedliche Marsch zu einen unkontrollierten Aufstand, der in einem Massaker vor dem Rundfunkhaus endete. Am Ende des Tages gab es 30 Tote. Es war der Beginn des Ungarnaufstandes, der zwölf Tage später von den Sowjets blutig niedergeschlagen wurde.

Über den Aufstand wollen wir jetzt mit dem Schriftsteller und Historiker György Dalos sprechen. Gerade ist sein neues Buch mit dem Titel "1956. Der Aufstand in Ungarn" erschienen. Ein paar biographische Notizen schicke ich mal vorweg. György Dalos wurde 1943 in Budapest geboren, legte bereits mit 21 Jahren seinen ersten Lyrikband vor und hat seit dem mehr als 20 zum Teil hoch gelobte Bücher geschrieben, studierte in den 60er Jahren deutsche Geschichte in Moskau, war Mitglied der ungarischen KP bis 1968, als er wegen staatsfeindlicher Aktivitäten Berufs- und Publikationsverbot erhielt.

Mitte der 70er Jahre schloss er sich der demokratischen Opposition in Ungarn an, lebte in Wien und Budapest und heute fest in Berlin. Im Jahr 1956 also war György Dalos 13 Jahre alt. Der 23. Oktober ist ungarischer Nationalfeiertag. Was bedeutet Ihnen dieser Tag? Was für Erinnerungen kommen in Ihnen auch hoch?

Dalos: Für mich, wie eigentlich für fast alle Ungarn, die diesen Tag mit einigermaßen reifem Bewusstsein erlebten, war der 23. Oktober doch eine große Wende. Dieser Volksaufstand veränderte das Land, veränderte das Leben von Millionen Menschen und wirkte bis auf die späten Jahrzehnte hinaus. Wenn ich über diese Wirkung spreche, also einerseits war Ungarn nach '56 nicht mehr das, was es davor war. Es wurde im Rahmen der kommunistischen Diktatur eine etwas modernere Variante versucht, in der die Privatsphäre der Staatsbürger nicht mehr so von den Behörden observiert wurde, wie das in anderen Staaten der Fall war. Es gab nach '56 kleine Freiheiten, eine bestimmte Akzeptanz für die Konsumwünsche der Bürger, und die ganze Atmosphäre veränderte sich. Andererseits flüchteten im November, Dezember 1956 an die 200.000 ungarische Staatsbürger aus dem Land. Das bedeutete, jede ungarische Familie hatte seit dem jemandem im Exil. Und das prägt schon.

Deggau: Und wenn Sie an den Tag selbst denken, an den 23. Oktober, als Sie 13 Jahre alt waren? Wo waren Sie gerade, was haben Sie gerade getan? Erinnern Sie sich noch daran?

Dalos: Ja, ich war Schüler. Und zwar in der siebten Klasse der Hauptschule im sechsten Bezirk, also im Zentrum von Budapest. Und ich erinnere mich ganz genau an die ersten Kundgebungen, weil ich Angst hatte vor dem nächsten Tag und zwar vor dem Geographen, vor dem Herrn Lehrer … Ich erwartete eine ziemlich strenge Befragung. Und in den späten Nachmittagsstunden, als ich die Demonstranten sah, ich wusste noch nicht, dass es keine Schule am nächsten Tag geben wird. Erst in den frühen Morgenstunden des 24. Oktober wusste ich, dass die Gefahr einer Befragung jetzt zumindest gebannt war, dafür aber andere Gefahren und Bedrohungen und zwar nicht für mich.

Deggau: Und wie ging der Alltag dann weiter? Gingen Sie noch zur Schule, oder fiel Schule aus?

Dalos: Die Schulen wurden Anfang Dezember wieder eröffnet. Aber normaler Lehrbetrieb begann erst im Januar und bis dahin gingen die Schulklassen kollektiv ins Kino, wo irgendwelche Vorkriegsschnulzen gezeigt wurden. Das war bereits diese entpolitisierende Politik.

Deggau: Je nach Standpunkt hat man die Revolution, die Konterrevolution oder den Freiheitskampf, hat man den 23. Oktober benannt. Sie bekennen sich auch sehr offenherzig zu der Schwierigkeit, die Dinge auf den Punkt zu bringen, wirklich einen Begriff zu finden, der hält. Was ist dabei so schwierig?

Dalos: Das war deswegen schwierig, weil die Kommunisten sich als Revolutionäre per se verstanden haben. Und sie wollten einer Bewegung, die gegen das sozialistische System, zumindest in der Form, wie es existierte, gerichtet war, natürlich nicht dieses schöne für Kommunisten sehr schön klingende Wort Revolution schenken. Und deswegen nannten sie 30 Jahre lang den Aufstand Konterrevolution. Die Bevölkerung sah in diesen Ereignissen eine Revolution und Freiheitskampf, angelehnt an die Revolution 1848 gegen die Habsburger, die mit russischer Hilfe unterdrückt worden war. Und diese Hilfe kam aus einem Imperium, das von Russland dominiert war, aus dem Sowjet-Imperium, was natürlich keine guten Assoziationen bei den Menschen hervorgerufen hatte.

Deggau: Ich nenne jetzt mal ein paar Zahlen: Es sind über 2.500 Menschen gestorben während des Aufstandes, fast 20.000 wurden verletzt. Die Flüchtlinge, Sie haben es eben schon gesagt, waren bis 240.000 die Schätzungen. Auf sowjetischer Seite gab es erst in den 90er Jahren Zahlen, die genannt wurden. Das waren dann 700 Soldaten, die gefallen sind. Sie sagten auch, dass der Aufstand eine Verkettung tragischer Umstände war. Es hätte also so weit gar nicht kommen müssen.

Dalos: Ja, wenn die sowjetische Politik zumindest auf dem Niveau der Probleme gestanden hätte, die im Ostblock in diesen Jahren kumuliert waren; wenn die ungarische Parteiführung nicht jahrelang sklavisch einen vorbeugenden Gehorsam gegenüber Moskau gezeigt hätte; wenn also diese Partei oder diese Macht zumindest so verantwortungsvoll denken könnte, wie das die Polnische KP tat, dann wäre es zu keinem Blutvergießen gekommen. Das System wäre erhalten geblieben und hätte sich vielleicht in einer langsameren Art doch im Rahmen des Ostblocks weiter entwickeln können.
Deggau: Albert Camus hat 1957, kurz nachdem er den Nobelpreis bekommen hat, gesagt, wir wissen was das ungarische Blut für Europa und für die Freiheit wert ist. Besiegt und in Fesseln geschlagen hat Ungarn mehr für Freiheit und Recht geleistet als irgendeine Nation während der letzten 20 Jahre. Mit diesen Worten hat er sich auch an den Westen gewandt, die die Ungarn ja etwas im Stich gelassen haben. Man war mit den eigenen Problemen beschäftigt. Es war Wahlkampf in den USA, die Suezkrise war da. Hat Ungarn sich verraten, verlassen gefühlt vom Westen?

Dalos: Ja. Aber hier müssen wir doch die Regierungen und die Gesellschaft voneinander unterscheiden. Die Regierungen des Westens inklusive der USA waren von vornherein auf eine solche Situation nicht vorbereitet. Die offizielle Politik der Vereinigten Staaten versprach den Nationen des Ostens die Befreiung ohne die Art und Weise zu spezifizieren. England und Frankreich waren in der Suezkrise verwickelt und die Regierungen taten, was sie tun konnten. Außerdem es gab doch diese Geheimklausel der Jalta-Konferenz, wonach Ungarn in den sowjetischen Interessenbereich gehörte. Die Gesellschaft hat ja doch einiges getan, vor allem diese Solidarität, die auch in den Worten Albert Camus zum Ausdruck kommt, und dann die ungarischen Flüchtlinge mit einer Großzügigkeit aufgenommen, deren Spuren ich in den Archiven des Auswärtigen Amtes jetzt gesehen habe.

Deggau: Seit seiner umstrittenen Rede jetzt im April, die jetzt erst herausgekommen ist, hat der ungarische Ministerpräsident gesagt, wir haben gelogen und das Volk steht auf den Barrikaden. Die Opposition holt aus, versucht die Regierung zu stürzen. Ist es so, dass die Opposition jetzt auch die Erinnerung an den Aufstand von 1956 als Vorlage nimmt? Kann das funktionieren?

Dalos: Ja, das hängt aber mit der ganzen Rezeption des Volksaufstandes zusammen. Dieser Volksaufstand wird von den politischen Parteien in Ungarn wie ein riesengroßer Kuchen betrachtet, von dem jeder einen eigenen Schnitt haben möchte, ohne den ganzen Aufstand als solchen zu rezipieren. Dieser Aufstand war nämlich eine Mischung zwischen spontananarchistischen und nationalen Rebellion wie im 19. Jahrhundert. Nun sind diese Ereignisse, die zeitlich in der Nähe des Jahrestages rücken, sehr oft damit verglichen worden. Ich glaube, dass kein Vergleich möglich ist. 1956 gingen die wirklich schlecht gekleideten armen Menschen auf die Straße, um gegen eine Diktatur zu kämpfen.

Diejenigen jetzt, die das Gebäude des Fernsehens erstürmt haben und dort Sachen entwendet haben und das Gebäude teilweise zerstört haben, also die sind diejenigen, die die Demokratie stabilisieren. Die Opposition versucht natürlich alles, um Gyurcsány, ich würde sagen den Lügner und den Wahrheitsager, von seinem Posten zu entfernen, weil Viktor Orban hatte noch nie einen solchen Gegner gehabt. Und sie haben alle wirklich Angst vor diesem Menschen.

Deggau: Jetzt gibt es die Feierlichkeiten und man befürchtet, dass es tatsächlich zwei Arten der Feier geben wird am Montagabend. Kann das sein, dass die Regierung und die Opposition, jeder das Fest für sich ausrichten wird?

Dalos: Diese Absicht besteht. Aber ich glaube, zum ersten Mal seit der Wende sind die Mehrheit der '56er-Organisationen damit einverstanden, dass sie gemeinsam feiern, sich also nicht vor die Karre der politischen Parteien einspannen lassen. Und Gyurcsány hat natürlich viele Fehler begangen, was kein Vorwand für diese Haltung der Opposition sein könnte, aber ich glaube, dass die meisten Ungarn jetzt eher dafür sind, diesen Jahrestag mit Würde zu begehen und nicht in Anwesenheit von dutzenden ausländischen Regierungs- und Staatschefs das Land blamieren.

Deggau: György Dalos, ich danke Ihnen sehr für diese Einschätzung, für Ihren Besuch in unserem Studio. Das Buch "1956. Der Aufstand im Ungarn" ist erschienen bei CH Beck, hat 248 Seiten und kostet 19,40 Euro.
Mehr zum Thema