"Dieser Text bedient moderne antisemitische Klischees"

Monika Schwarz-Friesel im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 10.04.2012
Die Berliner Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat Günter Grass für sein Gedicht "Was gesagt werden muss" scharf kritisiert. Im Gewand der Israelkritik verbreite es antisemitische Klischees.
Klaus Pokatzky: "Der ewige Jude" hieß einer der widerwärtigsten antisemitischen Propagandafilme der Nazis, in denen von Juden gesprochen wurde und dabei wimmelnde Rattenhaufen gezeigt wurden. Im September 1940 kam er in die deutschen Kinos. Das Drehbuch stammte von Eberhard Taubert. Der war ein hoher Funktionär in Goebbels Propagandaministerium, und nach dem Krieg wirkte er als Jurist in der deutschen Industrie und als Berater von Franz-Josef Strauß, dem CSU-Politiker. Wenn am letzten Mittwoch auf der Seite Eins der Tageszeitung "Die Welt" als Aufmacher ein Artikel im Feuilleton angekündigt wird mit der Schlagzeile "Günter Grass. Der ewige Antisemit", dann kann tiefer unter die Gürtellinie nicht geschlagen werden. Am Telefon begrüße ich nun Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin. Guten Tag, Frau Friesel!

Monika Schwarz-Friesel: Guten Tag!

Pokatzky: Frau Friesel, Sie beschäftigen sich seit einigen Jahren wissenschaftlich damit, wie sich der Antisemitismus heute äußert. Hat Günter Grass diese Schlagzeile verdient, "Der ewige Antisemit"?

Schwarz-Friesel: Nein. Diese Schlagzeile ist in der Tat vielleicht etwas, aus journalistischen Gründen, zu hoch gegriffen. Aber: Die ganze Debatte wird ja sehr emotional und verkürzt geführt und umso wichtiger ist es, tatsächlich auch den Finger auf seinen Text zu legen und zu schauen: Was hat er denn tatsächlich geschrieben. Und dieser Vorwurf des Antisemitismus, bleibt der bestehen, wenn man sich den Text nach wissenschaftlichen Kriterien anschaut? Und da wiederum kommt man zu dem traurigen Ergebnis: Ja, dieser Text bedient moderne antisemitische Klischees, die im Gewand des Anti-Israelismus auftauchen. Das ist ein bekanntes Phänomen. Wir wissen seit vielen Jahren, dass man nicht das Wort Jude benutzen muss, um sich antisemitisch zu artikulieren. Das heißt aber andererseits natürlich nicht, dass wir Günter Grass auch einen sogenannten Einstellungsantisemitismus unterstellen können oder müssen. Wir differenzieren ja in der Forschung zwischen der bewussten Einstellung, wie wir sie vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert gefunden haben, wo tatsächlich beispielsweise Goebbels und Hitler gesagt haben, wir sind Antisemiten, und das ist der Unterbau unserer Bewegung. Das alles taucht natürlich bei Günter Grass nicht auf, aber wenn man, wie wir in unserer Forschergruppe seit vielen Jahren es tun, zahlreiche historische und aktuelle antisemitische Texte analysiert hat und auch so einen Katalog mittlerweile aufgestellt hat: Wann ist ein Text antisemitisch? Dann muss man ganz objektiv feststellen, dass Günter Grass in diesem Text tief in die Verbalisierungsmechanismen von modernem Antisemitismus gegriffen hat.

Pokatzky: Welche Klischees, welche antisemitischen Klischees bedient er denn da genau?

Schwarz-Friesel: Also ein uraltes Klischee, was vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch in der Zeit der Nationalsozialisten immer wieder bedient wurde, war die bedrohende Gefahr. Also Juden und Judentum sind eine Gefahr für die Welt, für Deutschland. Deshalb wurden sie ja am Ende entsprechend auch ausgerottet vor dem Hintergrund dieser Ideologie. Und man hat immer betont, es sind Fakten, es sind Tatsachen. Solche Äußerungen finden wir übrigens auch in diesem Gedicht und auch in den nachfolgenden Äußerungen von Günter Grass. Und er scheint hier also nicht zu wissen, dass das fast im Wortlaut die Legitimierungsstrategien sind, die Antisemiten seit über 200 Jahren benutzen. Und wenn wir uns den Text anschauen, dann sehen wir, dass er nahezu alle Muster und Strategien benutzt, also ich nenne einige konkrete Sachen – wenn wir diesen vielzitierten Satz nehmen: "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden." Das ist natürlich eine groteske Übertreibung.

Pokatzky: Oder die Auslöschung des iranischen Volkes.

Schwarz-Friesel: Genau. Genau. Das ist nicht nur eine Übertreibung, es ist ganz einfach falsch. Es ist falsch, und wir haben hier die klassische Täter/Opfer-Umkehr. Das ist eine Strategie, die wir seit vielen Jahrzehnten im antisemitischen Diskurs sehen. Also die Welt wird einfach auf den Kopf gestellt. Die Juden, die eigentlich die Verfolgten waren und immer noch Opfer von Diskriminierung heute sind, werden plötzlich zu Tätern stilisiert. Und das ist in diesem Text in Bezug auf Israel ganz klar gemacht worden. Und man darf natürlich nicht vergessen, also viele haben ja in den Medien dann gesagt: Aber ich sehe nichts Antisemitisches. Man muss nicht das Wort Jude in einem Text haben heutzutage. Wir haben nach 1945 eine Tabuisierung von offenem Antisemitismus und wenn wir uns anschauen, auch Rechtsextremisten und Linksextremisten, die glühende Antisemiten sind, benutzen fast exakt die Strategien, die wir in diesem Gedicht von Günter Grass finden. Also zum Beispiel, sie behaupten ein angebliches Meinungsdiktat. Das findet sich in dem Text von Grass auch. Allein der Titel: "Was gesagt werden muss" – da ist die Implikatur, das hätte vorher noch niemand gesagt, und es würde ein moralischer Anspruch bestehen.

Pokatzky: Aber Frau Schwarz-Friesel. Wenn Sie jetzt darauf hinweisen, dass es sich hier sozusagen um sprachliche Defizite handelt, also dass er mit der Sprache nicht sensibel genug umgegangen ist – der Mann ist Literaturnobelpreisträger.

Schwarz-Friesel: Genau. Das ist eine eigentlich für ihn sehr peinliche und beschämende Komponente. Denn er ist ja nicht irgendwer, der diesen Text geschrieben hat. Er hat einen Nobelpreis für Literatur bekommen. Und man müsste doch zumindest von jemandem, der sich sein Leben lang mit Literatur beschäftigt hat, erwarten, dass eine gewisse Sensibilität bei einem so heiklen Thema und bei einer noch heikleren Vergangenheit sollte doch eigentlich eine gewisse Sensibilität im Umgang mit Sprache vorhanden sein. Die vermisse ich eklatant. Und das Traurige ist, dass selbst wenn er das nicht intentional verwendet hat, er bedient aber eben die alten Ressentiments und Stereotype durch diese Täter/Opfer-Umkehr, durch die Stilisierung, es gebe ein angebliches Meinungsdiktat – das stimmt nicht. Man muss sich ja vor Augen halten, dass Israel nachweislich, aufgrund aller Statistiken dasjenige Land ist, was am meisten und am heftigsten in den Medien in den letzten zehn Jahren kritisiert worden ist. Und auch seine Atompolitik ist schon des Öfteren kritisiert worden. Also alles, was er eigentlich geschrieben hat, ist falsch oder dumm.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin. Frau Schwarz-Friesel, was bitte ist denn heute Antisemitismus?

Schwarz-Friesel: Sie wissen, das ist die Gretchenfrage, die uns seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Das heißt, mit einem Satz kann ich es nicht beantworten. Ich kann es aber versuchen, in zwei, drei Sätzen zumindest zu skizzieren. Wir unterscheiden bei uns in der Forschung zwischen einem konzeptuellen Antisemitismus, das heißt, dass wenn wirklich die Einstellung vorliegt, man hat etwas gegen Juden, man ist ein Feind von Juden und Judentum. Das möchte ich Günter Grass nicht unterstellen. Ich hoffe sehr, dass das auf keinen Fall vorliegt, das glaube ich auch nicht. Aber wir haben eine ebenso gefährliche Variante, den Verbalantisemitismus. Das sind alle sprachlichen Äußerungen, die Stereotype, Ressentiments, Vorurteile bedienen …

Pokatzky: Wann wird denn eine Kritik an Israel antisemitisch?

Schwarz-Friesel: Genau in dem Moment – und hier möchte ich kurz noch vorher darauf hinweisen, dass diese Feststellung, die seit vielen Jahren durch die Medien geistert, man könne diese beiden Phänomene nicht klar voneinander abgrenzen, die stimmt einfach nicht. Aus strikt wissenschaftlicher, textanalytischer Sicht können wir diese beiden Texttypen sehr klar voneinander abgrenzen. Ich habe bislang noch nie einen Text von einem souveränen Journalisten oder Politiker gesehen, der tatsächlich ernsthafte Israelkritik übt, so scharf sie auch sein mag, dem man dann Antisemitismus vorwirft. Aber jemand, der nur so tut, als ob er Israel kritisiert, tatsächlich aber alte Klischees und Ressentiments bedient, benutzt, und jetzt kommt die Sprache ins Spiel, automatisch auch eine sehr verräterische Sprache. Er dämonisiert, er delegitimiert, er stellt Realitäten falsch dar. Und diese Komponenten finden wir in dem Gedicht von Günter Grass.

Pokatzky: Ist damit das Einreiseverbot für ihn in Israel gerechtfertigt, Ihrer Meinung nach?

Schwarz-Friesel: Also ich bin Wissenschaftlerin, keine Politikerin und keine Diplomatin. Deshalb ist es für mich sehr schwer, auf diese Frage zu antworten.

Pokatzky: Haben Sie Verständnis dafür?

Schwarz-Friesel: Ja. Ich habe Verständnis dafür, aber ich denke auch, dass es ihm eigentlich zu viel an Bedeutung beimisst. Ich denke, da hat jemand sich auf ein Podium geschwungen, der vielleicht einfach mal gerne wieder in der Aufmerksamkeit stehen wollte. Und deshalb halte ich dieses Einreiseverbot nicht für die beste Strategie.

Pokatzky: Der israelische Autor Uri Avneri hat dazu gesagt: Es ist antisemitisch, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf.

Schwarz-Friesel: Ja, wissen Sie, ich habe Probleme mit Herrn Uri Avneri. Er schreibt so Einiges, wo man sich als Wissenschaftler an den Kopf greift. Also es gibt in Israel – nochmal: es gibt nachweislich kein Kritik-Tabu an Israel, an seinen Aktionen, an seiner Politik. Schauen Sie sich die Presse an, schauen Sie sich das Internet an, wir erleben tagtäglich sehr scharfe, sehr harsche Kritik an Israel, und wenn sie nicht in diese alten Strategien des Antisemitismus verfällt, dann kommt auch niemand, auch nicht aus der Antisemitismusforschung auf die Idee, dies antisemitisch zu nennen. Aber es gibt eben Menschen, die obsessiv sich auf Israel fixieren. Und das sind leider nicht nur Rechts- und Linksextremisten, sondern, wie wir in unserer Forschung gezeigt haben, Antisemitismus war und ist immer auch dein Phänomen der Mitte. Also Bildung schützt nicht vor Antisemitismus. Das ist ein altes Vorurteil.

Pokatzky: Danke an Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.




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