Die Zukunft des Sterbens in Dortmunder Kleingärten

Von Stefan Keim · 30.08.2009
Alle zwei Jahre versucht das Dortmunder Theaterfestival "off limits", neue Handschriften und Impulse jenseits der etablierten Avantgarde zu entdecken. Bei der diesjährigen Suche verschlug es die Theatermacher auch in die Dortmunder Schrebergärten.
Der Krach einer elektronischen Gitarre dröhnt durch die lauschige Kleingartenanlage Hafenwiese im Dortmunder Norden. Eine blonde Tänzerin in schwarzer Unterwäsche verrenkt sich dazu in wilden Zuckungen. Die Künstler sind eingefallen in die Siedlung, die wunderschöne und originell gestaltete Gärten aufweist, aber eher unromantisch liegt zwischen einer Fabrikhalle und einem Einkaufszentrum. Sieben Zuschauergruppen wandern durch 250 Gärten. Jede hat ihren eigenen Parcours. Sie erleben Erstaunliches. In einem Häuschen hinter geschlossenen Fenstern sitzt eine unheimliche Frau. Eine gekreuzigte Kinderpuppe hängt an der Wand. Plötzlich nimmt sie das Publikum wahr, schlägt abrupt von innen vor das Fenster. Einige schreien auf vor Schreck, die Wirkung ist heftiger als im Horrorfilm.

Szenenwechsel.

Drei ältere Herren sitzen auf einer Bank. Sie sind keine Schauspieler, sondern echte Schrebergartenbesitzer. Mit dünnen Stimmen singen sie begleitet von einem Akkordeonisten Seemannslieder. Sie können sich kaum an die Texte erinnern, doch ihre Blicke wandern in die Ferne. Keiner weiß, welche Erinnerungen oder Träume hier gerade wach werden. Eben das macht die Szene berührend, im Zuschauer werden eigene Fantasien wach. Regisseur Rolf Dennemann hat viele Leute aus der Kleingartenanlage in das Projekt "Datscha live" integriert. Sie erzählen von sich, ihren Leben, ihren Sehnsüchten, mit Worten, Liedern oder indem sie einfach da sitzen. "Datscha live" ist die Eröffnungspremiere des Festivals "off limits", das sich diesmal mit sozialer und künstlerischer Partizipation beschäftigt.

"Also nicht als Statist mitzuwirken (...), sondern sich als Teil eines Kunstwerks zu fühlen, sprich: den Prozess mitzubekommen und wirklich (...) als einfacher, normaler Bürger (...) das Gefühl zu bekommen: Ohne mich ist dieses Werk kein Werk."

Rolf Dennemann hat in den Industrieanlagen des Ruhrgebietes Theater gemacht, lange bevor sie zu Denkmälern erklärt und aufgestylt wurden, lange bevor die Ruhrtriennale entstand. Er will Menschen erreichen, die sonst mit Kunst nichts zu tun haben. Über das Mitmachen, das gemeinsame Arbeiten an einer künstlerischen Idee.

"Ich kann viel besser atmen, denken und kreieren, wenn ich genügend Raum um mich herum habe und das nicht in einem schwarzen, dunklen Raum stattfindet. Und damit geht einher, ganz automatisch, dass man sich mit ganz anderen Dingen beschäftigen muss. Nämlich auch: Wie krieg ich das an die Menschen, ohne dass sie denken, sie müssen in ein Theater gehen?"

Dennemann hat nicht nur "Datscha live" inszeniert, er ist auch künstlerischer Leiter von "off limits". Seit seiner Gründung vor zwölf Jahren zeigt das Festival Theatergruppen und Solisten, die abseits des Mainstreams arbeiten, viele kommen aus Osteuropa. Diesmal gab es nur vier Tage Programm, weil einige der Sponsoren – das Land Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung – ihre Zuschüsse stark gekürzt haben. Nur die Stadt Dortmund steht treu zu diesem Festival, das keinen Modetrends folgt, ohne Glamour und Selbstbeweihräucherungen auskommt. Die Premierenfeier von "Datscha live" fand im Vereinsheim der Kleingartenanlage statt, und jeder zahlte sein Bier selbst. Rolf Dennemann:

"Wir versuchen ein Programm zusammenzustellen, was oft am Rande der darstellenden Kunst existiert. Wir zeigen Choreographien, also Tanz. Aber ist das wirklich Tanz im klassischen Sinne?"

Was die A 2 Company aus London zeigt, ist eine Gratwanderung zwischen choreographischem Theater und Installation. "The Future of Death/Part IV" gehorcht einer ganz einfachen Dramaturgie. Ein Mensch kommt auf die Bühne und legt sich hin. Ein zweiter kommt mit einem Sack voller Erde, schüttet sie auf den ersten, legt sich selbst auf den Boden. Ein dritter tritt auf und so weiter, bis die Spielfläche voll ist, ein Feld aus bewegungslosen Körpern. Die Darsteller sind Bürger aus Dortmund, wieder geht es um Partizipation, das Kunstwerk besteht aus ihnen. In den wenigen Momenten, bevor sie sich hinlegen, erfährt man einiges von ihnen, durch ihre Bewegungen, Blicke und Gesichter. Das ist die Kunst der A 2 Company, ein zutiefst respektvoller Umgang mit den Laiendarstellern führt zu einer offenen, ruhigen Atmosphäre. Ein Bild entsteht, das jeder Zuschauer mit eigenen Assoziationen auflädt.

Das Festival "off limits" besteht nicht nur aus den Aufführungen. Die ästhetischen und inhaltlichen Ansätze werden in einem ausführlichen Symposium reflektiert. Außerdem gibt es einen "observer in residence", einen Aufpasser sozusagen, der jeden Abend ein Gespräch mit den Zuschauern führt. Der Autor und Theatermacher Tuvia Tenenbom, Leiter des jüdischen Theaters in New York, hat gerade mit einem hinreißend ironischen Artikel über die Bayreuther Festspiele in der Wochenzeitung "Die Zeit" Aufsehen erregt. Inzwischen war er auch in Salzburg und hat eine klare Meinung über das deutschsprachige Theater entwickelt.

"It´s boring. I´m sorry to say it. I mean, the set designs are beautiful, the best in the world.” "

Die Bühnenbilder, sagt Tuvia Tenenbom, seien die besten der Welt. Aber die Aufführungen selbst findet er einfach langweilig. Weil ihm die Botschaft fehlt, die Lust, eine Geschichte zu erzählen ohne dekonstruierende Regiemätzchen.

""What do you wanna say to me? Are you telling a story? What is this about, the production?”"

Auch die Aufführungen bei "off limits" schaut sich Tenenbom mit kritischem Blick an. Die Inszenierung der Kleingartenanlage hat ihn zunächst an einen Friedhof, dann an einen Zoo erinnert. Und schließlich fand er es interessant, wie die Leute spielen und sich abmühen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein zutiefst menschliches Bedürfnis.

""So it was very very interesting to see the human need to play, to act, to get an attention."