Die Wiederkehr eines Begriffs

Vorgestellt von Heike Schmoll · 30.10.2005
Noch vor wenigen Jahren wäre es ein absoluter Tabubruch gewesen, in aller Öffentlichkeit von Eliten zu sprechen, gar ein Buch darüber zu schreiben. Der Elitebegriff gehörte zu den verfemten Wörtern wie Patriotismus, Nationalbewusstsein, Traditionsbewusstsein und Stolz.
Spätestens seit der Debatte um Elitestudiengänge in Bayern oder die Spitzenuniversitäten, die auf Wunsch einiger Länder doch lieber nicht Eliteuniversitäten heißen sollten, ist der Elitebegriff wieder salonfähig geworden. Malte Herwig knüpft in seinem Buch "Eliten in einer egalitären Welt" an diese aktuellen hochschulpolitischen Debatten an und ist auch in den Kapiteln am überzeugendsten, in denen er sich mit deren Argumenten auseinandersetzt. Er beginnt mit der These, dass Eliten das sind, was die Gesellschaft aus ihnen macht, um dann eine kurze Begriffsgeschichte der ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert stammenden Qualitätsbezeichnung anzuschließen. In einer Demokratie, so meint Herwig, könnten unter Elite nur diejenigen gemeint sein, die sich durch eine Kombination von Talent und Leistung auszeichneten und sich dadurch Anerkennung und Einfluss verschafft haben.

"Was bei den Elitewaren die Präsentation ist, das ist in der Gesellschaft die Repräsentation. Aus der Werbung für Waren wird der Wettbewerb um Status. Keine Elite kann sich nur aufgrund ihrer tatsächlichen Leistung definieren, sondern muss dafür sorgen, dass diese öffentlich erkannt und anerkannt, also legitimiert wird."

In einem begriffs- und kulturgeschichtlichen Abriss erläutert Herwig die Rolle der Eliten und ihre Attribute im alten Rom, dann zur Zeit der Reformation. Im alten Rom waren die Funktionseliten auch die sozialen Führungsschichten. Ein gehöriges Maß an Bildung gehörte dazu:

"Im Gegensatz zu Griechenland war in Rom Bildung vor allem Mittel zum Zweck, Erziehung zum Staatsdienst…. Erwartet wurden nicht nur das Beherrschen der griechischen Sprache, sondern auch ein umfassendes Studium von Rhetoriktheorie, Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. "

Herwig beschreibt, wie sich Bildung immer stärker als Mittel der bürgerlichen Selbstdarstellung etablierte, denn sie hatte den Vorteil eines hohen Statuswerts. Für die Reformationszeit führt er Thomas Müntzer als Beispiel für die Möglichkeit sozialen Aufstiegs durch Bildung im 16. Jahrhundert an. Allerdings war es beileibe nicht Müntzers Verdienst, dass sich die Massen aus der literarischen und religiösen Unmündigkeit befreien konnten. Vielmehr waren Melanchthon und Luther die Vordenker der allgemeinen Schulpflicht. Warum Herwig sie nicht einmal erwähnt, ist selbst dann nicht verständlich, wenn man ihm zugute hält, dass es ihm mehr um das emanzipatorische Moment als um die Sache selbst ging.

Viele Beobachtungen, die in den folgenden Kapiteln folgen, erscheinen eher assoziativ und aphoristisch als von wirklicher Systematik geprägt, manche Einsichten ragen heraus wie erratische Blöcke, so die vergleichende Beobachtung des Bildungsbürgertums und des Adels im nachrevolutionären Frankreich:

"Wie man heute den verdächtigen Begriff der Elite durch Zusammensetzungen wie Leistungs-, Funktions- und Positionselite unschädlich machen will, so rief man damals nach einem Adel der Bildung, Intelligenz und Gesinnung. "

Humboldts Gymnasialreform führte dazu, dass in Preußen die Sprösslinge des Adels einträchtig neben ihren bürgerlichen Mitschülern saßen und mit ihnen wetteiferten. Was im 19. Jahrhundert das daran anschließende Universitätsstudium exklusiv machte, waren die langen Studienzeiten, die viel Zeit und Geld forderten und der sozialaristokratische Zug der gelehrten Stände. Zu Recht erinnert Herwig an Friedrich Paulsens 1902 erschienene Abhandlung über "Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium", in der die akademisch Gebildeten als eine Art geistige Aristokratie bezeichnet werden.

Niemand würde es wagen, nach der 1964 von Georg Picht ausgerufenen Bildungskatastrophe noch davon zu sprechen. Die Initiative des Bildungsministeriums, "Leuchttürme der Wissenschaft" in Deutschland zu errichten, sieht Herwig mit der gebotenen Nüchternheit. Die deutschen Universitäten würden auf diese Weise wie zur Zeit der Bildungsexpansion wieder zum Labor eines gesellschaftlichen Großversuchs.

Das gegenwärtige Kompetenzchaos in der Bildungspolitik in Bund und Ländern habe mit der Reform der Hochschule so viel zu tun, "wie der Homunculus in Goethes Faust mit Dolly dem Klonschaf" meint Herwig. In der Tat gibt es keinen Konsens darüber, was die Elitehochschulen eigentlich sind – doch wie auch, wenn es noch nicht einmal einen Konsens darüber gibt, was unter Bildung zu verstehen ist.

"Seit über zwei Jahrzehnten sind die Hochschulen das Stiefkind der Politik, sie haben keine Lobby, und ihre Budgets gelten als beliebige Manövriermasse für sparpolitische Eingriffe. Mit immer weniger öffentlichen Geldern sollen sie immer mehr leisten. So wird ein hektisches Drittmitteleintreiben forciert, das den Verantwortlichen für ihre eigentlichen Aufgaben in Forschung und Lehre kaum noch Zeit lässt. Gleichzeitig wird der politische Druck auf die Universitäten erhöht, praktisch nutzbare Auftragsforschung für Unternehmen durchzuführen. "

Wie sehr das ängstliche Schielen auf Nutzbarkeit und Verwertbarkeit eigentlich freier Forschung wirken könnte, zeigt selbst ein so wenig anfälliges Fach wie die Chemie, die erst dann Forschritte machte, als man es nicht mehr darauf anlegte, Blei in Gold zu verwandeln. Doch von der Vorstellung einer Bildung als Wert an sich sind Schule und Hochschule gegenwärtig weit entfernt, das konstatiert Herwig zu Recht:
"Gymnasium und Universität sind zu Orten eines hochbürokratischen Qualifizierungsmarathons geworden, bei dem Reife günstigstenfalls als Nebenprodukt des Zeugnisses oder Diploms abfällt. "

Im Grund beklagt der Autor hier den Verlust des humanistischen Bildungsbegriffs des 19. Jahrhunderts, der fachliche Bildung mit gutem Grund nie von der Persönlichkeitsbildung getrennt hat.

Zu den schwächsten Kapiteln gehört sicherlich der Abschnitt über die Rechtschreibreform, auch wenn die Feststellung, dass es bei der Debatte um die Rechtschreibreform wohl eher um Weltbilder als um Schriftbilder gehe, ihre emotionale Heftigkeit zutreffend erklärt. Die eigentlichen Revolutionen im Sprachgebrauch sieht der Autor durch Globalisierung und neue Medien, also auf dem freien Markt der Kommunikation - damit dürfte er entschieden zu kurz greifen. Das gilt auch für die ausführliche Darstellung der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, die er nachgerade euphorisch feiert als Weg zu geistiger Emanzipation und kritischem Bewusstsein. Die Wikipedianer hält er für eine Info-Elite, die nicht nur auf der Jagd nach Wissen ist, sondern auch keine Scheu hat, daran selbst mitzuarbeiten.

Doch wer zählt am Ende der Betrachtung eigentlich zur Elite?

"Die Fähigkeit zu unterscheiden und auszuwählen ist eines der Merkmale von Eliten, wie die Beispiele Rechtschreibreform und neue Medien gezeigt haben. In diesem Sinne ist Elitehandeln die tätige Aufklärung des autonomen Subjekts, das selbstbewusste Navigieren durch eine Vielfalt von Informationen und Konventionen … Wir brauchen eine Bürgergesellschaft, in der wir alle zu Citoyens werden und gemeinsam an einem Strang ziehen, anstatt uns in unsere statusversessene Nischenexistenz zu verkriechen und unsere Besitzstände zu hüten. Wenn jeder sein Bestes gibt, dann gehören wir alle zur Elite. "

Das ist der ernüchternde Schlussappell nach immerhin 181 Seiten über Elitebegriff und Elite – eine Elite, die nichts anderes ist als das modernitätsfähige, zu selbständigem Auswählen und Entscheiden fähige Individuum. Wer im Pluralismus überleben will, muss genau diese Eigenschaften besitzen – ob er deshalb schon zur Elite gehört, ist durchaus zu bezweifeln.


Malte Herwig: Eliten in einer egalitären Welt
WJS Verlag, Berlin 2005