Die Weltregierung (Teil 2)

Utopie einer gerechten Verteilung

Illustration einer Weltkarte aus vielen bunten Punkten
Illustration einer Weltkarte © ©istock/fonikum
Von Johannes Nichelmann · 20.12.2016
Unsere Wirtschaft ist globalisiert. Die Finanzströme sind es auch. Eine Weltregierung, die für all das einen ordnungspolitischen Rahmen setzen könnte, gibt es nicht. Aber wäre das wirklich eine bessere Alternative als die bisherigen Nationalregierungen?
Cambridge, Großbritannien – hier lebt der Astrophysiker Stephen Hawking. Vor Kurzem schrieb er im "Guardian": "Wir sind am gefährlichsten Punkt in der Entwicklung der Menschheit angelangt."
Klimawandel, Überpopulation, Aussterben anderer Arten, Epidemien, Versauerung der Meere – alles keine günstigen Voraussetzungen, um auf der Erde zu bleiben. Und Kolonien auf irgendwelchen fremden Planeten seien eben zurzeit nicht realisierbar. Aber wir hätten nun alle Technologien dafür, den Planeten, auf dem wir leben, zu zerstören.
Als Lösung empfiehlt der 74-Jährige Barrieren abzubauen anstatt sie zwischen oder innerhalb von Nationen zu errichten. Ressourcen lägen nur in der Hand weniger – der Westen müsste lernen zu teilen. Aber wie soll das funktionieren? Als ich den Artikel von Stephen Hawkings lese, denke ich wieder an das Gedankenspiel einer demokratischen Weltregierung.
Bisher habe ich mit vielen Leuten gesprochen, die sich mit der Idee irgendwie anfreunden konnten. Jetzt bin ich in Berlin-Kreuzberg mit Bazon Brock verabredet. Der 80-Jährige ist emeritierter Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung. Er leitet die "Denkerei". In der Mitte eines riesigen fast leeren Raumes steht ein Tisch. Dort sitzt der Mann, der sich als erster Denker im Dienst zutraut die Seelen von Menschen aus Politik, Kultur, Medizin und auch den Medien zu retten. Also auch meine Seele. Ich offenbare mich.
Autor: "Ich will ja für mich persönlich einfach nur mein Leben leben und in Ruhe gelassen werden und..."
Bazon Brock: "Das können Sie nicht! Das ist ein dummes Zeug! Wieso? Sie leben doch nicht alleine. Sie leben davon, dass andere arbeiten. Dass andere etwas erfinden. Ja Globalisierung heißt, Sie werden niemals mehr in Ruhe gelassen werden. Sie Idiot, Sie haben es doch selber gewollt! Das ist doch Ihre Ideologie! Sie posaunen doch dauernd heraus, wie schön eine Welt ohne Grenzen. Wie schön, keine Grenzunterscheidung. Wie schön, dass sich jeder seine Welt selbst gestalten kann. Wie schön, dass jeder seine Wirklichkeit selbst...- haben Sie doch selber ausgeblasen. Und dann müssen Sie sich vorstellen, was das bedeutet, wenn Sie behaupten, ich will ja nur in Ruhe gelassen werden."
Obwohl wir uns erst seit ein paar Minuten kennen, hat Herr Brock natürlich nicht ganz unrecht mit seiner Einschätzung. Als Kind meiner Zeit finde ich offene Grenzen tatsächlich gut – schließlich habe ich augenscheinlich immer von ihnen profitiert. Und in meiner grenzenlosen Naivität habe ich mir bisher eingebildet, dass jeder Mensch das Recht haben sollte ein so feines Leben zu führen, wie ich es kann. Da das aber nicht der Fall ist, fühle ich mich mit der Ungleichbehandlung auf dem Globus einfach nicht wohl.
Autor: "So, das sind meine Symptome und jetzt würde ich gerne von Ihnen wissen, wie man damit umgeht."
Bazon Brock: "Das ist von vornherein der falsche Ansatz. Denn Gleichheit kann es nicht geben. Das hat Hegel schon festgestellt. Wo Gleichheit herrscht, herrscht Stillstand. Er nennt das, dass Verfaulen des Wassers, das nur für sich steht. In einem Teich. Weder durch Einfluss oder Abfluss verändert wird. Noch durch Regen verändert wird. Stillstand ist der Tod eben jener Intention, die man gerade durch Erzeugung der Ungleichheit erreichen will. Nämlich Dynamik. Fließgeschwindigkeiten, wie im barocken Garten. Man baut bewusst Differenzen ein, das heißt nur über das Gestalten von Unterschieden gibt es überhaupt so etwas wie Dynamiken, wie Entwicklungsgeschwindigkeiten.
Es kommt nicht darauf an, überall das Gleiche zu erzeugen. Das ist ja gerade der Traum des neoliberalen Kapitalismus. Die ganze Welt zuzumüllen, mit dem gleichen Marktquark, den Sie da haben. Sondern umgekehrt! Es kommt darauf an, die Unterschiede produktiv zu machen."

Vorschlag: Blöcke schaffen

Der Künstler und Botschafter Arkadiens, Peter Kees und ich spazieren durch den Englischen Garten in München. Würde ein Weltregierung bedeuten, dass sämtliche Bevölkerungsgruppen ihre Traditionen aufgeben müssten?
"Da müssen wir ja noch gar nicht so weltweit gucken, wir sehen ja schon, wir sind hierher nach München gereist, ich hab auch lange in Berlin gelebt und ich muss Ihnen ehrlich sagen – also ich hab mal in München studiert, dann hab ich lange in Berlin gelebt; und als ich dann Jahre später wieder nach München kam, empfand ich das einen riesigen Kulturschock. Ich war auch schon in Afrika. Das empfand ich, komischerweise, nicht als so ein großen Kulturschock. Vielleicht weil man die Bilder aus dem Fernsehen, aus den Medien kennt usw. Man wusste eigentlich, was einen dort erwartet. Ich meine, schon da sehen wir ja, dass die Regeln ganz unterschiedlich funktionieren."
Ja, vielleicht endet bei den Unterschieden bereits das Gedankenspiel mit der Weltregierung. In Frankfurt am Main erinnert sich der ehemalige Investmentbanker und heutige Privatier Rainer Voss an eine besondere Fortbildungsmaßnahme.
Spielfiguren in unterschiedlichen Farben stehen im Kreis
Symbolbild für eine gemischte Gruppe© picture alliance / dpa / Robert B. Fishman
"Da war ein interkulturelles Managementseminar. Da ging es darum, dass man mit Anthropologen und sehr schlauen anderen Leuten Spielsituationen aufgebaut hat, in denen man mit unterschiedlichen Nationen zusammenarbeiten musste. Das, was in multinationalen Unternehmen ja ständig passiert.
Sie glauben gar nicht, wie sich an Kleinigkeiten, vermeintlichen Kleinigkeiten, da ein Streit entzünden kann. Wir hatten eine Situation z.B. wo wir die nationalen Feiertage durchsetzen mussten. Sie können ja nicht jeden nationalen Feiertag - in einem Unternehmen mit hundert Nationen können Sie nicht durchsetzen, weil dann arbeitet keiner mehr. Man muss sich irgendwie auf ein paar Feiertage einigen.
Und dann hatten wir zusätzlich noch eingebaut, dass die Leute bestimmte Verhandlungsstile haben. Also die Deutschen kommen und sagen: Wo ist die Tagesordnung? Der Japaner darf eigentlich nichts entscheiden. 'I have to ask my Tokyo.' Aber das darf man den nicht spüren lassen, weil dann ist der beleidigt. Und so ging das rundherum. Die Italiener kamen eine Viertelstunde zu spät. Also alle Vorurteile wurden bedient.
Wenn Sie mal versucht haben, in so einer Situation über einfache Dinge zu entscheiden und sich dann das Ganze vorstellen mit 196 Nationen - weil wenn man das macht, müssen alle mitreden dürfen. Sie haben 196 Nationen, die gemeinsam mit ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen über irgendeine Sache übereinstimmen müssen. Das halte ich für echt schwierig."
Rainer Voss' Vorschlag: Blöcke schaffen. Parlamente in Europa, Afrika, Asien, Nord- und Südamerika, Australien, die dann jeweils ihre Vertreter in ein übergeordnetes Weltparlament entsenden.
"Das könnte eine Lösung sein. Aber das muss man ja von langer Hand irgendwie wollen. Ich kann das im Moment nicht erkennen. Der Zug geht ja in eine völlig andere Richtung."

Welche Rolle spielen eingeschworene Netzwerke?

Ich habe fast alle meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gefragt, was Sie tun würden, wenn Sie die Führung einer Weltregierung übernehmen würden. Eigentlich alle waren etwas peinlich berührt – eine so große Aufgabe würde vermutlich am wenigsten sie selbst ereilen. Warum also darüber nachdenken; und ist es nicht anmaßend, die Chefin oder der Chef gleich einer ganzen Welt sein zu wollen? Wer sollte diesen mächtigen Posten übernehmen?
Peter Kees: "Ich komme immer zurück zu Ihrem - weil mich das auch sehr beschäftigt, diese Frage der Weltregierung. Das geht natürlich eigentlich nur mit Vernunft. Jetzt waren wir aber vorhin bei dem Punkt, dass natürlich die Reichen Interesse haben, ihr Geld zu vermehren, mal so platt gesagt. Dass also die persönlichen Machtinteressen einzelner immer ein ganz zentraler Punkt sind. Wann kann ich mit Vernunft arbeiten, dann wenn meine persönlichen Interessen, sozusagen meine tief in mir verwurzelten emotionalen Interessen keine Rolle mehr spielen.
Gab's nicht mal in der Antike so eine Idee, wo man dann eben sagte, das können eben wirklich nur alte Menschen machen? Also so weise Menschen, die irgendwie unsere Welt regieren? Nicht die Altersstarsinnigen, die es natürlich auch gibt."
Bazon Brock: "Wer Macht ausübt erkennt, dass er gar keine hat. Je höherrangig, desto mehr. Was kann er dann machen? Er kann abdanken. Nein, es ist ja seine Funktion da auszuhalten. Wenn er nicht charakterfest ist und vor allem nicht intellektuell etwas mehr auf dem Kasten hat als diese Leute, dann kann ihm nur noch die Überhöhung in den Machtwahnsinn bleiben. Allmachtswahnsinnigkeit ist die natürlich erklärbare Reaktion auf das Eingeständnis: Ich kann ja gar nichts. Ich hab ja gar nichts."
Die linke Journalistin Sarah Leonard, 28 Jahre alt aus New York City ist Co-Autorin des Buches "Die Zukunft, die wir wollen".
"Es ist nur eine Frage der Macht. Wir müssen die Leute dazu bringen zu handeln. Gerade organisieren wir Graswurzelbewegungen beispielsweise wegen des Mindestlohns oder der Rechte von ausländischen Arbeitern in verschiedenen Staaten. Ein Beispiel. Unser Gouverneur in New York war lange Gegner eines Mindestlohns von 15 US-Dollar. Aber die 'Fight for fifteen'-Kampagne brachte die meisten Menschen in New York dazu dieser Idee zuzustimmen. Sie fanden das gut. Plötzlich war auch der Gouverneur dabei, hat das Gesetz unterschrieben und gesagt, wie großartig das ist. Das hat er nicht gemacht, weil er ein guter Mensch ist, sondern weil die Bewegung ihn dazu gezwungen hat."
Der Kampf um den Brexit, den Ausstieg der Briten aus der EU, war auch der Kampf zweier alter Rivalen. Zwischen Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, für den Ausstieg, und dem damaligen Premierminister David Cameron, gegen den Ausstieg. Manche sagen, die Sache mit dem EU-Austritt habe auch mit einer Fehde zwischen den beiden Herren zu tun. Beide sind in derselben Partei. Beide waren zur selben Zeit auf derselben Eliteschule. Später studierten beide in Oxford und waren beide Mitglied des Bullingdon Club. Einer Art Burschenschaft des reichen Establishments. Welche Rolle spielen solche eingeschworenen Netzwerke?
Die Flagge Großbritanniens über der Londoner Oxford Street nach dem Brexit-Referendum
Die Flagge Großbritanniens über der Londoner Oxford Street nach dem Brexit-Referendum© dpa / picture alliance / Andy Rain
Autor: "Eine andere Sache ist... wie sollte man mit den Old-Boy-Netzwerken umgehen?"
Sarah Leonard: "Einen äußerst wichtigen Teil bei diesen Altherren-Verbindungen spielt der Drehtüreffekt. Leute, die eigentlich die Wall Street kontrollieren sollen kommen oft selbst von der Wall Street. Sie regulieren etwas, gehen dann zurück in die Privatwirtschaft, dann wieder in die Regierung. Sie werden Chef der FED - der US-Notenbank - dann gehen sie wieder zu Goldman-Sachs.
Es ist also wenig überraschend, dass die Regulierungen nicht sehr gut sind. Diese Menschen haben die gleiche Ideologie was die Rolle der Finanzwelt in der Gesellschaft angeht. Diesen Drehtüreffekt sollten wir stoppen. Das geht mit Gesetzen. Wir haben welche, die besagen, wie lange ein Abgeordneter warten muss, bevor er Lobbyist werden darf. Außerdem: viele dieser Netzwerke werden durch unser Bildungssystem geformt.
Eine Sache die wir machen können: Wir müssen also die staatlichen Schulen viel, viel mehr fördern. Vielleicht müssen wir sogar die Privatschulen abschaffen. Das wäre sehr extrem. Aber hilfreich, denke ich. Die reichen Leute kennen sich, denn sie waren auf denselben Schulen. Die Schulen die andere besuchen sind unterfinanziert, weil dort keine Leute sind, die wohlhabend sind. Ich verspreche, dass wenn wir die Privatschulen abschaffen auch die Old-Boy-Netzwerke ziemlich stark abnehmen würden."

"Wenn es um einen gerechten Staat geht, wird es gefährlich"

Der Zufall hat entschieden, wo wir geboren wurden. In Berlin oder Benin City. Ob im Wohlstand oder in Armut, ob im Frieden oder im Krieg. Wir alle beantworten die Fragen nach einer Weltregierung anders.
Peking, China. In einem Restaurant mit europäischer Küche sitzen Tourismus-Managerin Liu Yan, 43 Jahre alt, und IT-Manager Cui Feng, 39, an einem Tisch. Die beiden kommen, angeregt durch den Hinweis eines Journalisten, auf Utopien zu sprechen.
Cui Feng: "In der Utopie sollte eine Regierung die Möglichkeit bieten, dass die Menschen ihre eigenen, persönlichen Werte auch leben können. Jeder ist gerade damit beschäftigt seinen Lebensunterhalt zu besorgen oder ein Haus zu kaufen. Für viele ist es unmöglich überhaupt darüber nachzudenken, wie Utopia aussehen könnte."
Liu Yan: "Ich sehe das genau wie Du! Das wahre Utopia, so wie ich es mir vorstelle, bietet jedem die Möglichkeit auch seinen spirituellen Frieden zu finden. Wie sagte Marx? Die wirtschaftliche Lage bestimmt alles Weitere. Wenn Leute genug zu essen und ein Haus zum Leben haben und wenn sie nicht frieren - erst dann können sie auch über sich selbst nachdenken. Wie auch immer – heutzutage haben doch die Leute damit zu tun einfach zu überleben. Sie sind eben nicht in der Lage sich mit solchen Dingen zu beschäftigen."
Cui Feng: "Für die Zukunft wäre es wohl das Beste, dass alle gewillt sind hart daran zu arbeiten, dass soziale und persönliche Werte wirklich eine Rolle spielen."
Liu Yan: "Als ich klein war, eigentlich bis heute, hatte ich gar nicht die Möglichkeit an vielen Wahlen teilzunehmen. Ich habe gar keine Erfahrung damit. Es interessiert mich! Allerdings glaube ich nicht, dass es das perfekte Modell dafür gibt. Es braucht sicher Zeit. Wahrscheinlich wird das in meinem Leben nichts mehr. Aber mein Sohn oder meine Enkelkinder können vielleicht an Wahlen teilnehmen, politisch mitmischen und die Gesellschaft mit ihren politischen Ansichten verändern!"
Budapest, Ungarn. Es ist Herbst geworden. Die Blätter fliegen über den Asphalt, die Menschen eilen durch die Kälte, um schnell wieder ins Warme zu kommen. Die Gesichter umschlungen von dicken Schals. In einem etwas überheizten Wohnzimmer blickt eine Frau aus ihrem Fenster. Sie beobachtet ein Schiff, das fast lautlos, wie in Zeitlupe, die Donau flussaufwärts fährt. Es ist die Philosophin Ágnes Heller. Ich erzähle ihr von meiner Reise, von den Menschen, mit denen ich über die Utopie einer Weltregierung gesprochen habe. Sie hört mir wohlwollend zu.
Autor: "...und die anderen haben die Utopie einer gerechten Welt. Vom Kapitalismus befreit."
Ágnes Heller: "Es ist sehr schön, eine Utopie der gerechten Welt zu haben. Alle Utopien, es tut mir leid, der gerechten Welt, enden in einer Tyrannei und im Totalitarismus. Die Menschen mit dem besten Willen, den besten Idealen werden ein totalitäres Regime vorbereiten. Ich kann Ihnen so viele Beispiele geben, wie Sie nur wollen. Dass alle, die zum Beispiel die bolschewistische kommunistische Regierung des 20. Jahrhundert vorbereitet hatten waren doch Idealisten. Sie haben an Karl Marx geglaubt. Noch Lenin hat über die Abschaffung des Staates gesprochen in einem seiner ersten Bücher, wo er den Terror eingeführt hat. Man spricht über Abschaffung des Staates und man führt den Terror ein.
Es tut mir leid. Es tut mir leid. Diese leidenschaftlichen jungen Menschen. Ich gehörte auch zu ihnen. Ich weiß, worum es geht. Nur, wenn eine Utopie politisch ist, nur wenn es um eine gerechte Gesellschaft, einen gerechten Staat ist, nur dann wird es gefährlich. Das endet immer in Skeptizismus, Misstrauen, Verzweiflung."
Autor: "Wann haben Sie aufgehört an Utopien zu glauben?"
Ágnes Heller: "Das ist eine schwere Frage. Das hängt davon ab, was eine Utopie ist. Die Utopie eines perfekten Staates hab ich sehr früh schon verloren. Wesentlich während der Revolution '56."

"Hoffentlich gibt es keinen gerechten Staat"

Ágnes Heller hat sich am Ungarischen Volksaufstand 1956 aktiv beteiligt. Studenten forderten damals Veränderungen, waren gegen die Regierung der kommunistischen Partei, gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Am Ende wurden 350 Aufständische hingerichtet.
Autor: "Was ist das für ein Gefühl, eine Utopie aufgeben zu müssen. An was nicht mehr glauben zu können, woran man vielleicht vorher geglaubt oder was man gehofft hat?"
Ágnes Heller: "Auf der einen Seite ist das eine traurige Sache, wenn man eine utopische Hoffnung aufgibt. Auf der anderen Seite ist es ein gutes Gefühl, dass man von einer Selbsttäuschung sich befreit. Beide Gefühle zusammen, das kann ich Ihnen sagen, später ist das zweite Gefühl wichtiger geworden. Da hab ich schon nichts mehr verloren, aber eher etwas gewonnen."
In der Antike, schreibt Ágnes Heller in ihrem Essay "Von der Utopie zur Dystopie" gäbe es zwei Arten von Utopien. Zum einen die Wunschutopie. Eine Welt befreit von Krankheit, Hass und Niedertracht. Harmonie von Mensch, Tier und Natur. Zum anderen die Utopie des gerechten Staates.
Zitat:
"Ein philosophisches Modell der Gesellschaft, von der man glaubt, dass sie funktionieren könnte, auch wenn sie vielleicht nicht realisierbar ist. Philosophisch konstruierte Utopien verkörpern keine tief in der menschlichen Einbildungskraft verwurzelten Sehnsüchte, sie entstehen vielmehr aus einer bewussten Anstrengung, den gegenwärtigen destruktiven Zuständen die praktikable Vorstellung einer anderen sozialen Organisationsmöglichkeit entgegenzuhalten."
Ágnes Heller: "Hoffentlich gibt es keinen gerechten Staat. Ein gerechter Staat würde ein Staat sein, wo niemand sagt, dass es ungerecht ist, weil es Gesetz ist, das der Staat gerecht ist. Das würde eine fürchterliche Sache sein. Ich sage nicht nur, dass ein gerechter Staat nicht möglich ist, ich sage eher, dass es nicht wünschenswert ist."
Wie wollen wir uns unsere Zukunft vorstellen? Erderwärmung, Umweltkatastrophen, Atomkriege, globale Migration, Kriege und noch mehr Kriege? Das Kommende als Untergangsszenario? Ja, sagt die Philosophin.
Ágnes Heller: "Dystopien sind realistischer. Es ist besser sich vorzustellen, dass unsere Zukunft eine gefährliche Zukunft ist, um diese gefährliche Zukunft zu verhindern."
Welten, wie sie die Autoren George Orwell mit 1984, Aldous Huxley mit "Schöne neue Welt" und Michel Houellebecq mit "Unterwerfung" beschrieben. Totale Überwachung, Indoktrinierung, radikale Wandel der Systeme – ohne Happy End.
Ágnes Heller: "Die zeigen uns die Zukunft als eine Zukunft, wo die Menschen, Staatsbürger eines Staates oder von Europa, eine totalitäre oder auch nicht totalitäre fundamentalistische Ideologie und politische Einrichtung frei und in Freude anerkennen und annehmen. Das sind die Dystopien. Dystopien sind Warnungen, ja? Sie zeigen uns, was möglich ist und sagen uns, bitte, tu das nicht! Verhindere, dass diese Sache zustande kommt! Sie haben etwas ganz anderes im Sinne als die Utopien. Die Utopien sagen: tut es! Wenn Du es tust, dann kommt das. Die Dystopien besagen, tut das nicht! Dann kannst Du uns noch retten."
Ágnes Heller: "Das ist auch über die jungen Leute, die so glücklich sind, wenn sie große Bewegung haben. Passt auf, passt auf! Ja. Passt auf. Sehr viele französische Intellektuelle haben Ayatollah Khomeini unterstützt. Sehr viele große französische Intellektuelle haben Chruschtschow und Fidel Castro unterstützt. Sehr viele gute französische Intellektuelle haben die Mao Zedong Kulturrevolution unterstützt. Passt auf!"

Negativbeispiel EU

Ich bin wieder in Greifswald, an der Ostsee, bei Hubertus Buchstein. Er ist der Politikwissenschaftler, der mir im Teil eins dieser Zeitfragen-Reihe zur Weltregierung von seiner Idee von Demokratie und Lotterie erzählt hat. Er stellt sich eine Parlamentskammer vor, die aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern besteht.
Autor: "Ágnes Heller hat mir gesagt, dass alle Utopien, alle politischen Utopien am Ende in totalitären Systemen münden müssen."
Hubertus Buchstein: "Das halte ich nicht für richtig. Es gibt im 19. Jahrhundert bestimmte liberale Utopien darüber, wie Menschen leben sollen, mit Grundrechten und da sind wir heute froh darüber, dass sich zumindest ein Teil dieser Utopien realisiert haben. Das gilt für bestimmte Arten von Utopien. Das gilt für Utopien, die diesen Perfektionismus Anspruch haben.
Das haben wir in der marxistischen Tradition, das haben wir in der faschistischen Tradition, das haben wir eben auch in der Tradition aus der Ágnes Heller kommt. Aus einer gewissen Art von Marxismus, sie selbst hat sich dann daraus sehr stark befreit, auch biografisch, auch gedanklich. Aber auch noch ihr Doktorvater, Georg Lukács, hat bis zum Lebensende totalitäre Denkmotive in seinem Denken.
Für Liberale gilt das nicht, das gilt nicht für Sozialdemokraten und das gilt auch nicht für Menschen, die sich Gedanken darüber machen, wie kann man eine Weltregierung demokratisch organisieren, wenn dabei schon mitgedacht ist der Gedanke, wichtig ist, dass so etwas nicht totalitär, diktatorisch abgleitet und auch genauso wichtig ist, dass man das nicht, in Anführungsstrichen, über die Köpfe der Menschen hinweg als Avantgarde fast schon gegen ihren Willen einführt um sie dann in diese Richtung hin zu erziehen. Ich meine, eine solche Idee, wie 'Weltregierung' kann nur von unten, von einzelnen Staaten, Staatsblöcken, wachsen."
Was ist mit Europa? Wäre nicht die Europäische Union ein Vorbild für solch eine Weltregierung gewesen? Wäre gewesen. Gerade befindet sich die Gemeinschaft in ihrer größten Krise. Die Briten bereiten gerade ihren Ausstieg vor. Frankreichs Präsidentschaftskandidatin Marie le Pen will den Staatenbund fallen sehen, wie einst die Sowjetunion. Nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Niederlanden, Österreich und Deutschland stehen Wahlen an. Die EU-Gegner haben große Chancen. Zeigt dieser vermeintliche Niedergang, dass eine Weltregierung unmöglich ist?
Flaggen der Europäischen Union vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel, Belgien (14.5.2012)
Die EU als Vorbild für eine Weltregierung?© picture alliance / dpa / CTK Photo / Vit Simanek
Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz, sieht gerade am Beispiel der EU das Konzept einer Weltregierung von vorneherein gescheitert.
Ulrike Herrmann: "Was wir sicher brauchen, ist mehr Koordination weltweit. Ich wäre jetzt aber dagegen eine Weltregierung zu etablieren. Also ich glaube die hätte keine Akzeptanz. Das sieht man ja schon in der Europäischen Union, dass die Leute Brüssel oder die Beschlüsse des EU-Rats nicht wirklich akzeptieren, obwohl man sagen muss, da bin ich anderer Meinung als die Meisten, dass die EU an sich eine demokratische Verfassung hat. Man kann jetzt nicht sagen, es wird ja oft so kolportiert, ja, es ist gar nicht demokratisch, das ist alles eine Diktatur. Nein!
Denn in der EU ist es ja letztlich so, dass demokratische gewählte Regierungen dann Beschlüsse fassen. Das ist eine Form von Demokratie.
Aber obwohl es an sich demokratisch ist, wird es ja von der Bevölkerung abgelehnt. Einfach, weil es eben zentral ist und nicht im Nationalstaat stattfindet. Und ich glaube, das wäre bei einer Weltregierung noch schlimmer. Man müsste eben gucken, dass es weltweite Strukturen gibt, die nicht das Gleiche sind wie eine Regierung.
Ágnes Heller: Europa bleibt im ökonomischen Sinne eine Organisation der Staaten. Der andere Fuß sind die Europäischen Werte. Das ist vornherein mit einer Art von Lüge verbunden. Es ist vorgestellt, dass Europa nur liberale, demokratische Werte hat. Obwohl die europäische Tradition sehr wenig liberale demokratische Werte verwirklicht hat. In dem 20. Jahrhundert waren beinahe in ganz Europa totalitäre Staaten, Diktaturen und auch wo keine Diktatur stattfand, wie in Frankreich, konnte man nicht in diesem wertvollen Sinne über eine liberale Demokratie reden. Was heißt, Europa hat zwei verschiedene Traditionen.
Das heißt, wenn man darüber spricht, dass zum Beispiel Marie le Pen keine Europäerin ist, würde ich sagen, dass im 20. Jahrhundert eben die Typen von Marie le Pen - sie waren Europa damals gewesen."

Zu lange Leine für Facebook?

Meine Generation kennt kein Leben ohne ein gemeinschaftliches Europa. Ohne Frieden, direkt vor der eigenen Haustür.
Autor: "Wenn ich überlege, meine Uroma hat eins, zwei, jetzt ihr drittes System gerade, dass sie erlebt. Also ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir auch noch andere…"
Ulrike Herrmann: "Also sie war..."
Autor: "Im Dritten Reich, DDR, BRD. Also drei Systeme, die ihr Leben maßgeblich beeinflusst haben."
Ulrike Herrmann: "Ja, das stimmt. Das denke ich auch manchmal. Das hab ich immer ganz natürlich empfunden, dass man da eben in der DDR - äh... in meinem Fall in der BRD -aufgewachsen ist. Vielleicht ist das im Rückblick ungewöhnlich dass man solange in dem gleichen System und immer schön im Wohlstand aufgewachsen ist, nicht."
Am Ende meiner Reise bin ich mir sicher dass eine demokratische Weltregierung in weiter Ferne liegt. Es spricht wenig dafür, dass ich erlebe, dass sich die Idee einer gerechten Verteilung von einer Utopie in die Realität verkehrt. Ex-Investmentbanker Rainer Voss:
"Ich sag mal so, wenn man nicht mehr an Utopien glaubt, dann kann man sich gleich in die Kiste legen. Wir müssen viel mehr darüber nachdenken und das wäre auch in Vorwurf, den ich an die Politik habe. Egal ob Weltregierung oder Nationalregierung: Dass kein Mensch mehr sich irgendeinen Gedanken darüber macht, wie eigentlich eine Gesellschaft aussehen kann in 30, 40 oder 50 Jahren. Wie organisiere ich eine postkapitalistische Gesellschaft. Ja?
Was bedeutet Digitalisierung? Natürlich haben die alle Arbeitsgruppen und da werden Papiere geschrieben und so weiter. Da ist die Wirklichkeit so viel schneller, ja. Neulich eine Reportage über das Silicon Valley gesehen, wo die Leute ganz offen sagen, das was wir hier machen, versteht keiner und deswegen lassen sie uns auch in Ruhe. Wir arbeiten völlig außerhalb des demokratischen Raums, ja.
Und darauf zu hoffen, dass der Zuckerberg gute Absichten hat, das kann man machen, ich will dem auch gar nichts unterstellen. Aber das kann natürlich auch böse schiefgehen. Und ich glaube, dass wir in bestimmten Bereichen, die die Menschheit sehr, sehr betreffen, den handelnden Personen viel zu lange Leine lassen.
Zitat:
"Erspare ich mir die müßige Frage danach, wie wir wohl künftig sein werden, und nutze die Zukunft vielmehr als die Perspektive meiner Betrachtung der Gegenwart, dann werde ich nicht mehr fragen, wer wir sind, sondern wer wir gewesen sein werden."
Roger Willemsen.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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