"Die Welt ist so unendlich kompliziert geworden"

Inka Mülder-Bach im Gespräch mit Katrin Heise · 07.08.2013
Robert Musils mehr als 1000-seitiger, unvollendeter Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" beginnt an einem Augusttag des Jahres 1913. Damals - wie heute - war die Krise eine Art Lebensgefühl, meint die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach. Es ging immer weiter "von Krise zu Krise zu Krise". Musil habe für sich aus dieser Situation einen Ausweg gesucht und eben deshalb den Roman geschrieben.
Katrin Heise: Robert Musil hat, als er 1942 starb, einen riesigen Romantorso, "Der Mann ohne Eigenschaften", hinterlassen, an dem sich die Nachwelt, angefangen seine Ehefrau, abgearbeitet haben, nämlich um einen Schluss zu kreieren. Teil eins und zwei waren ja noch zu seinen Lebzeiten erschienen, Teil drei brachte er nicht zu Ende.

Bezeichnend war und ist, dass dieser Roman eine ungeheure Bedeutung in der Literatur und weit darüber hinaus erlangte, obwohl viele Menschen zugegeben haben, ihn nie, zumindest nicht fertig gelesen zu haben. Selbst Musils Zeitgenosse Thomas Mann gab zu, mit großem Interesse zu lesen, aber im Zweifel zu sein, ob er durchhalte. Wir hören jetzt erst mal den Anfang des weit über 1000-seitigen Werkes, gelesen von Wolfram Berger.

Einspielung: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum. Es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats, und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Heise: Das war der Anfang von Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", gelesen von Wolfram Berger. Musil nahm es offenbar mit der Erinnerung nicht ganz so genau, denn das schreckliche Wetter, das tatsächlich schreckliche Wetter des August 1913 mit Durchschnittstemperaturen um 16 Grad herum, das dürfte er eigentlich nicht vergessen haben, und trotzdem.

Wollte man in Analogie zum Bloomsday des Ulysses einen Ulrich-Tag aus der Taufe heben, böte sich der 7. August an, so liest man bei Inka Mülder-Bach in ihrer Einleitung zum Versuch über Musils Roman. Die Literaturwissenschaftlerin ist jetzt in München im Studio, ich kann mit ihr sprechen. Ich grüße Sie ganz herzlich!

Inka Mülder-Bach: Guten Tag!

Heise: Warum ist Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" feiertagswürdig?

"Literarisch bedeutsamste Gesamtkonstruktion der Moderne"
Mülder-Bach: Weil es vielleicht die umfassendste und literarisch bedeutsamste Gesamtkonstruktion der Moderne ist, die die deutschsprachige Literatur vorzuweisen hat, in dieser Hinsicht nur vergleichbar eben mit dem Ulysses.

Heise: Und deswegen gleich auch ein ganzer Tag, der Ulrich-Tag, den Sie etwas spaßhaft vorschlagen. Es ist ja ein Roman, in dem der Intellektuelle Ulrich beschließt, im August 1913, ein Jahr Urlaub vom Leben zu nehmen, nachdem ein weiterer seiner Versuche, eine Karriere zu beginnen, gescheitert ist. Ich habe vorhin gesagt, Thomas Mann hat zugegeben, nicht zu Ende gelesen zu haben. Ich glaub', ich hab' mal beim Bayerischen Rundfunk ein Feature gehört, in dem Menschen auch erzählt haben, warum sie Musil nicht zu Ende gelesen haben. Aber natürlich alle von ihm gehört haben, vom "Mann ohne Eigenschaften" – ist es einer dieser Romane, die am meisten nicht gelesenen, aber am meisten wertgeschätzten Bücher?

Mülder-Bach: Ja, also ich denke, in den 80 Jahren, seitdem der Roman sozusagen, der erste Band des Romans erschienen ist, haben sicher sehr viele Leser den Roman gelesen – also vielleicht die beste Beschreibung dafür ist, dass der Roman sozusagen dem Leser das zumutet, was er selbst versucht. Er will tatsächlich durch die Welt kommen. Und sozusagen der Roman simuliert gewissermaßen in sich selbst so etwas wie eine Textur der Welt. Und da gibt es kein Durchkommen.

Heise: Sie schreiben in Ihrem Buch selbst über einen Monstertext, das heißt, jetzt sind wir auch bei dem literarisch-stilistischen Aufbau. Es ist das essayistische, das Aufbrechen des Erzählens, das war ja was ganz oder was relativ Neues jedenfalls. Es war Musils Auseinandersetzung mit der Moderne. Kann man da sagen, es war sein Wunsch, eben nicht einfach etwas darzustellen, eben nicht geradlinig – Sie haben ja gerade gesagt, irgendwie die ganze Textur der Welt einzufangen. Es war ja eine ungeheuer aufgeladene Zeit, vielleicht sollten wir darüber noch mal sprechen. Was war das für ein Jahr, 1913, dieser Sommer. Zum Beispiel fällt mir jetzt gerade ein, auf den Bestsellerlisten dieses Buch von Florian Illies, "1913: Der Sommer des Jahrhunderts". Warum war das ein Sommer des Jahrhunderts?

Mülder-Bach: JA, ich weiß nicht, ob das ein Sommer des Jahrhunderts war, offen gestanden. Es gibt sicher viele Sommer des Jahrhunderts, und hinterher ist man immer schlauer, nicht. Also dieser Sommer jedenfalls wusste sich nicht als letzter Sommer vor dem Krieg. Also Musil spricht ja mal vom Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Ausbruchs. Also es ist eine Zeit ungeheurer Widersprüche und politischer Lähmungen, in denen man im Nachhinein den Eindruck hat sozusagen, dass das kleinste Zündlein die Explosion hervorrufen kann.

Allerdings, und auch das, glaube ich, ist für Musil eine ganz entscheidende Fragestellung: Dieser Krieg war nicht notwendig. Es war auch kein Krieg, der wie der Zweite systematisch geplant worden war. Alle spielten mit dem Feuer, und die Bürger, so sagt Musil lange vor Broch, reisten in Zügen wie in Schlafwagen, vertrauten den Lokomotivführern und erwachten erst bei dem Zusammenstoß. Also ich glaube, ich bin skeptisch mit diesen Zurückdatierungen. Musil ist enorm skeptisch mit diesen Zurückdatierungen. Im Grunde arbeitet er genau daran, also wie aus einem unendlichen Geflecht von Verläufen, die in sich durchaus notwendig sind, aber nicht notwendigerweise koinzidieren, wie daraus so etwas entsteht.

Heise: "Der Mann ohne Eigenschaften". Mit der Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach gehen wir zurück in den im Roman beschriebenen Sommer 1913. Was ist für Sie das Hervorstechendste? Ist es dieser fast schon Drucktopf, der sich da aufbaut oder sind es die ungeheuer vielen Möglichkeiten, die ja auch eigentlich Positives versprechen, die sich in diesem Jahr andeuten. Technische, aber auch gesellschaftspolitische Umbruchsituationen?

"Eine Zeit ungeheurer Widersprüche und politischer Lähmungen"
Mülder-Bach: Ich denke, der utopische Horizont, in dem Musil arbeitet, also, wäre eine andere Welt möglich gewesen, der ist uns ferngerückt. Also mir ist der jedenfalls ferngerückt. Es ist völlig klar, dass es diesen Roman ohne diesen utopischen Horizont nicht gegeben hätte. Es fällt schwer, den heute zu besetzen.

Was natürlich nicht schwer fällt, ist Musils sozusagen Möglichkeitsdenken, das ist in einer Weise sozusagen unseren Erfahrungen von Kontingenz angemessen, wie es wahrscheinlich kein anderer zeitgenössischer Roman aufweist. Das zweite, also was mich an diesem Roman fasziniert, ist die Ungeheuerlichkeit seiner Spracharbeit und die Art und Weise, wie Musil alle Fragen von Wissen, alle Fragen der Wissenschaft – er gilt ja deshalb auch als so schwer und so unlesbar, weil er auf Augenhöhe mit den zeitgenössischen Wissenschaften argumentiert.

Heise: Darf ich ganz kurz in dem vorherigen Punkt einhaken? Sie haben von den Möglichkeiten gesprochen. Was sagt Musil über die Gestaltungsmöglichkeit dieser Möglichkeiten?

Mülder-Bach: Na, er will zu einer finden. In diesem Roman regiert ja in seinem ersten Band tatsächlich ein riesiges Musenmonster, nämlich eine Freundin, die die Muse des Romanciers ist und die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie ungeheuer gefräßig ist.

Musil sozusagen nimmt es also mit einer Gattung auf, mit einem Genre, dem Roman, der ungebunden ist, der keine Strukturen hat, keine Form hat, und sucht diese Form zu finden. Und der Ausgangspunkt, glaube ich, ist die Strukturformel, die sein fiktionales Weltmodell, also das historische Vorbild seines fiktionalen Weltmodells hat er nämlich diese unaussprechliche, an einem Sprachfehler zugrunde gegangene – und jetzt muss man, glaube ich, die ganze Formulierung verwenden – "Kaiserliche und Königliche Kaiserlich-Königliche Österreichische und Ungarische Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie".

Heise: Hört sich tatsächlich immer an wie ein Sprachfehler.

Mülder-Bach: Das ist ein Paradox.

Heise: Wenn Sie den "Mann ohne Eigenschaften" heute lesen, sind Sie zum Teil erinnert an unsere Gesellschaft jetzt, an unsere Situation jetzt, eine Situation durchaus in der Krise, vor einer Krise, einer Situation der Umbrüche?

"Es gibt Analogien zwischen den Jahren 2013 und 1913"
Mülder-Bach: Es ist hoch problematisch natürlich 2013 mit 1913 zu vergleichen, aber es gibt Analogien. Sie haben die Krise erwähnt. Eine Analogie ist natürlich, dass es gar keine Krise gibt. Es gibt einfach nur nichts anderes als Krisen. Also es gibt einfach ein und so weiter, und so weiter, und so weiter von Krise zu Krise zu Krise.

Das ist auch etwas, was Musil beobachtet, und wo er nach einem Ausweg sucht, und auch ein Ausweg, weil er sagt, es gibt letztlich überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeiten mehr. Die Welt ist so unendlich kompliziert geworden, wie sollen wir uns überhaupt entscheiden? Daraus, unter anderem, sucht er einen Ausweg in dem zweiten Band.

Und natürlich – es gibt ja eine wunderbare Formel bei ihm: "Ich glaube, damit ich verstehe". Und das übersetzt er, gewissermaßen auf Augenhöhe mit dem Kapitalismus, mit "Herr, oh mein Gott, gebe mir Produktionskredit." Das ist sozusagen eine Formel, in der er auf etwas zielt, was man sagen könnte, so etwas, wie einen imaginären Vertrauensvorschuss. Also, der Produktionskredit ist nicht etwas, was von Rating-Agenturen berechnet werden könnte, er ist sozusagen eine imaginäre Haftung. Irgendeine Vorannahme, ein imaginärer Kitt, der einen in der Welt hält. Das Rätsel des Entzugs dieses Kitts, das ist etwas, was ihn umgetrieben hat, und das könnte einen, glaube ich, heute auch umtreiben.

Heise: Sagt die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach. Wir sprachen über Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". Frau Mülder-Bach, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!

Mülder-Bach: Vielen Dank!

Heise: Und ihr Buch "Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman", das Buch von Inka Mülder-Bach ist im Hanser Verlag erschienen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.