Die Vielfalt Europas - wissenschaftlich fundiert

06.02.2013
Bei der Lektüre dieses Bandes stellt man als Benutzer schnell fest, wie wenig man über den fraglichen Zeitraum von 1800 bis 1850 tatsächlich weiß. Dies gilt insbesondere für die geschichtliche Entwicklung von Ländern, die sich am Rande unserer deutschen Mittellage befinden.
Seit knapp 3000 Jahren ist die Geschichte der attraktiven Phönikierprinzessin Europa historisch belegt. Der Götterprimus Zeus – so der Gründungsmythos unseres Kontinents – verliebte sich bei ihrem Anblick in sie und entführte sie, als Stier verwandelt, auf seinem Rücken nach Westen über das Meer nach Kreta, wo Europa drei Söhnen das Leben schenkte. Wer sich für die folgenreiche dramatische Geschichte der zahllosen Nachkommen der schönen Europa im Detail interessiert, wird in den jetzt abgeschlossenen, gut lesbaren handlichen neun Bänden des Handbuchs der Geschichte Europas fündig werden.

In den 90er-Jahren, als Theodor Schieders zwischen 1968 und 1987 erschienenes Handbuch der europäischen Geschichte konzeptionell und wissenschaftlich überholt – und vergriffen – war, entwickelte der damals an der Universität Bern lehrende Historiker Peter Blickle das in jeder Hinsicht überzeugende Konzept für sein neues Europa-Handbuch, dessen Bände seit 2002 erschienen sind. Auf der Grundlage der neuesten gesicherten Forschungsergebnisse stellen die Autoren der Einzelbände ihre Epoche nach einem einheitlichen Grundraster dar: jeder von ihrem Autor charakterisierten und interpretierten Epoche folgen, nach ihrer Bedeutung gewichtet, Einzelprofile der Länder Europas.

In weiteren Kapiteln wird dann der Frage nachgegangen, durch welche Ideologien ihre Herrschaftssysteme legitimiert wurden, in welchem politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Spannungsverhältnis sie zueinander standen, welche Querverbindungen und Gemeinsamkeiten es gab, wie sich ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen gestalteten – alles Fragen, die aus globaler Perspektive gesehen eindrucksvoll verdeutlichen, dass dieses Europa trotz seiner mörderischen Binnenkonflikte und seiner widersprüchlich erscheinenden Vielfalt mit Fug und Recht als Einheit gesehen werden muss.

Jeder Band schließt ab mit Informationen über den aktuellen Stand der Forschung und der Darstellung der unterschiedlichen national-historiografischen Traditionen der Aufarbeitung und Wahrnehmung unserer gemeinsamen Geschichte. Wer sich etwa mit einzelnen Aspekten und Ländern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befassen möchte, wird unter Zuhilfenahme der ausführlichen und zuverlässigen Register fündig.

In dem jetzt vorliegenden Band Europa zwischen Reform und Revolution von Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier stellt man als Benutzer schnell fest, wie wenig man eigentlich über den fraglichen Zeitraum von 1800 bis1850 tatsächlich weiß. Dies gilt insbesondere über die geschichtliche Entwicklung von Ländern, die sich am Rande unserer deutschen Mittellage befinden. Über das, was sich damals in Frankreich, England – auch Italien - und dem bunten territorialen deutschen Flickenteppich an Wichtigem, an Zukunftsweisendem ereignete, meint man Bescheid zu wissen, stellt dann aber schnell fest, wie begrenzt unser Wissen vom Gesamteuropa der Jahre von 1800 bis 1850 eigentlich ist.

Dass sich die Schweizer, wenn auch nur für kurze Zeit, im Jahr 1847 noch in einem Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten in den Haaren lagen, hat sich im gesamteuropäischen kollektiven Gedächtnis nicht verankert. Wer sich über die Gesamtgeschichte der Schweiz informieren möchte, kann dank der ausgezeichneten Register in dem Handbuch von den Anfängen der Schweiz an bis zum Jahr 1945 stöbern und sich so ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Bild machen von dem mit uns im Guten und Bösen eng verwobenen Nachbarland, das, wie Band 9 offenlegt, eng mit Nazideutschland, dessen Rassegesetze es übernommen hatte, verquickt gewesen war und ist.

Der transnationale Ansatz dieses Handbuchs überwindet nicht zuletzt die Überheblichkeit der frühkolonialistischen Ideologie, von der ab Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Europäer heftig infiziert waren - und die letztendlich zur europäischen Selbstzerfleischung in zwei Weltkriegen und zum Verlust der gegenseitigen Wertschätzung führte. Wie das neue Handbuch eindrücklich durch die Jahrhunderte hindurch belegt, sind die Nachfahren der schönen Phönikierprinzessin Europa im gegenseitigen Interesse gut beraten, wenn sie zumindest einigermaßen verträglich miteinander auskommen, damit sie den sich immer wieder stellenden Herausforderungen gewachsen sind.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800-1850
Ulmer UTB
574 Seiten, 24,99 Euro