Die Vertreibungsbilder hinterfragen

Rezensiert von Mathias Beer · 10.04.2011
Eva und Hans Henning Hahn beschäftigen sich mit einem der umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte - mit der Vertreibung infolge des Zweiten Weltkrieges. Den Autoren geht es vor allem darum, das Vertreibungsgeschehen in Frage zu stellen.
Während und nach dem Ende de Zweiten Weltkriegs verloren rund 12,5 Millionen Bürger aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und Angehörige deutscher Minderheiten aus einer Reihe ostmitteleuropäischer Staaten ihre Heimat. Sie flüchteten, wurden evakuiert, ausgewiesen oder umgesiedelt. 4,5 Millionen von ihnen kamen in die Sowjetische Besatzungszone/DDR, wo das "Umsiedlerproblem" für die SED bald als gelöst galt. Acht Millionen wurden in die drei westlichen Besatzungszonen eingewiesen.

Die "Flüchtlingsfrage", wie sie in Westdeutschland zunächst bezeichnet wurde, stellte die zutreffend als "Konfliktgemeinschaft" von Alt- und Neubürgern bezeichnete junge Bundesrepublik vor große Herausforderungen. Sie wurden in einem beispiellosen Integrationsprozess gemeistert, dessen Produkt die Bundesrepublik auch ist. Über die sozialpolitischen Folgen der zunächst nicht für möglich gehaltenen Eingliederung und Assimilation der Millionen von Neubürgern hat es seit den 1960er Jahren keine nennenswerten öffentlichen Diskussionen gegeben.

Im Unterschied dazu waren und sind die Ursachen und Umstände der deutschen Zwangsmigration auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gegenstand heftiger und kontroverser Debatten. Sie durchziehen die gesamte Geschichte der Bundesrepublik wie ein roter Faden und zeigen, dass das Thema keineswegs tabuisiert war. Der jahrelange, nach wie vor andauernde Streit über ein "Zentrum gegen Vertreibungen" ist nur ein Beispiel dafür.
Als Beitrag zu diesen Debatten verstehen die beiden ausgewiesenen Historiker, Eva und Hans Henning Hahn ihre umfangreiche wissenschaftliche Studie "Die Vertreibung im Erinnern
der Deutschen". In den seit über sechs Jahrzehnten andauernden Diskussionen, so ihre zentrale und steile These, seien bewusst überwiegend Legenden über das Vertreibungsgeschehen in die Welt gesetzt worden.

Ein Labyrinth von Fehlinformationen und -deutungen hätten sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu einem unzutreffenden, ja grundlegend falschen Bild von der Vertreibung verwoben: Deutsche als weitgehend unschuldige Opfer allein alliierter Politik. Dieses Bild entspreche nicht den Fakten. Es ebene die Vielfalt der Erinnerungen an das komplexe Vertreibungsgeschehen ein und sei zudem rechtslastig. So vernebelt, bestimme ein verzerrtes Bild bis heute das offizielle Erinnern an das Vertreibungsgeschehen in Deutschland. Eva und Hans Henning Hahn:

"Eine Analyse von Kontinuitäten und Wandel im kollektiven Gedächtnis erlaubt die Rekonstruktion eines über mehr als ein halbes Jahrhundert weitgehend konstant bleibenden Narrativs, das sich empirisch nicht überprüfter Aussagen und einiger weniger gefestigter Redewendungen bedient und daher als ein ‚Mythos Vertreibung’ zu bezeichnen ist." (S. 10)

Von diesem Credo geleitet, hinterfragen die beiden Autoren die gängigen Vertreibungsbilder. Die Grundlage dafür bildet die umfangreiche publizierte Überlieferung einschließlich der
breiten Forschungsliteratur sowie das im Anhang des Buches bereitgestellte statistische Material. Sie tragen unermüdlich, wie die knapp 3000 Fußnoten erkennen lassen, Argumente zusammen, mit der sie ihre These von der Vertreibung als einem Mythos zu untermauern suchen.

Diese betreffen im Wesentlichen drei Bereiche: Den Stellenwert des Zweiten Kriegs für das
Vertreibungsgeschehen, die bundesdeutsche Geschichtspolitik der frühen Nachkriegszeit und ihre bis in die Gegenwart fortwährende Wirkung. Die Autoren sehen zutreffend in dem vom
nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden Eroberungs- und Vernichtungskrieg nicht nur den wesentlichen, sondern und anders als der überwiegende Teil der Forschung, den ausschließlichen Motor für die Vertreibung der deutschen Bevölkerung.

Der Klage über die Deutschen als Opfer alliierten und ostmitteleuropäischer
Staaten stellen sie als Korrektiv eine erforderliche deutsche Selbstanklage gegenüber. Völkischen Traditionen folgend habe bereits die nationalsozialistische Politik den Bewohnern der östlichen Reichsgebiete und den nach Meinung der Autoren in hohem Maß dem Nationalsozialismus verhafteten deutschen Minderheiten ihre Lebensgrundlagen entzogen. Sie habe schon während des Krieges bis zur Hälfte der späteren Vertriebenen in Bewegung gesetzt und sie damit zu Opfern, allerdings der nationalsozialistischen Räumungspolitik gemacht.

Diese seien aber als Folge nationalsozialistischer Umdeutung zu Opfern der Alliierten gemacht worden. Damit sei während des Nationalsozialismus der den Mythos Vertreibung bestimmende deutsche Opferdiskurs geschaffen worden. Er blende aus, dass erst der deutsche Eroberungs- und Vernichtungskrieg die Pläne für die Umsiedlungen nach Kriegsende habe reifen lassen.

Dabei seien nicht die ostmitteleuropäischen Staaten, sondern die Großmächte maßgeblich gewesen. Diese hätten weder auf eine Rekonstruktion der europäischen Staatenordnung zugunsten ethischer Homogenität gezielt, noch hätte man Bevölkerungsumsiedlungen für ein allgemein anerkanntes Mittel zur Lösung politischer Konflikte gehalten, geschweige denn, hätten sie sich von niederen Beweggründen leiten lassen.

"Die in Potsdam 1945 verkündeten Entscheidungen beruhen keineswegs auf irrationalen Gründen, moralischer Verantwortungslosigkeit oder emotionalen Befindlichkeiten, wie in Deutschland oft vermutet wird. Der nationalsozialistische Expansionskrieg war in der europäischen Geschichte einmalig - nicht weil expansionistische Kriege ungewöhnlich wären, sondern weil sich der Nationalsozialismus explizit gegen alle humanitären Wertvorstellungen gerichtet hatte." (S. 347)

Auf den während der NS-Zeit geschaffenen Grundlagen und in deren Fortführung sei dann nach Hahn und Hahn in den Gründerjahren der Bundesrepublik der Mythos Vertreibung zielgerichtet geschaffen worden. Förderlich sei dabei der Kalte Krieg gewesen. Er habe es erlaubt, die von Rache und Vergeltung getriebenen Schuldigen für die Vertreibung, so wie in
der NS-Zeit, ausschließlich bei den osteuropäischen Staaten zu sehen.

In diesem Kontext und der Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis sei die rechtslastige politische Instrumentalisierung des Themas durch gezielte staatliche Einflussnahme und Förderung auf fruchtbaren Boden gefallen. Viele der damals auch von namhaften Historikern bewusst in die Welt gesetzten Fehlinformationen seien nie korrigiert worden und verzerrten die Geschichtsbilder bis heute. In den angeblich weitgehend dem Nationalsozialismus verhafteten Vertriebenenverbänden sehen die Autoren geradezu die Personifizierung des Mythos Vertreibung. Seine Entstehung sei allerdings keine unausweichliche Entwicklung gewesen. Der Mythos Vertreibung entstand,

"weil sich in der Bundesrepublik eine strukturell gefestigte Darstellungsform der Vertreibung entwickelte, der sich zahlreiche Autoren seit Generationen bedienten. Solche Erinnerungsbilder beruhen auf nur vagen historischen und räumlichen Verortungen der Vertreibung und werden von unbelegten Hinweisen auf ungenaue und überhöhte Opferzahlen begleitet.

Die Autoren solcher Vertreibungsdarstellungen weichen im Stil ihrer Erzählungen ebenso wie in den zeitlichen, örtlichen und statistischen Angaben voneinander ab, und darüber hinaus veränderten sich im Laufe der Zeit die rhetorischen Mittel und verbalen Ausdruckweisen. Die strukturell jedoch seit Generationen gleichbleibenden Darstellungen und Erklärungen der Vertreibung bilden einen sich verselbständigenden Mythos, der unberührt von Widersprüchen, von unbeantworteten Fragen und historischen Informationen über die ihm zugrunde liegenden Ereignisse fortlebt."
(S. 454)

Hinweise für das Fortleben des Mythos und damit eines, wie sie meinen, altneuen Trends in der Gegenwart liefern den Autoren u. a. die Auseinandersetzungen um das vom Bund der Vertriebenen initiierte "Zentrum gegen Vertreibungen". Sie sehen darin eine doppelte Gefahr.

Es könnte die in der völkischen Tradition angelegten, während des Nationalsozialismus propagierten und in der frühen Bundesrepublik etablierten falschen Bilder von Flucht und Vertreibung dauerhaft im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankern. Und es würde die Vielfalt der Erinnerungen an die Vertreibung endgültig unterpflügen und einer notwenigen
Geschichte der Vertriebenen jenseits des Mythos Vertreibung den Weg versperren:

"Die deutsche Gesellschaft hat sich seit der Nachkriegszeit grundlegend verändert, aber im Erinnern an die Vertreibung ist ein entsprechender Wandel ausgeblieben. Während sich die Bereitschaft zur Versöhnung mit den Nachbarstaaten und die Akzeptanz der Potsdamer Grenz- und Umsiedlungsentscheidungen weitgehend durchsetzte, sind die in den 1950er-Jahren verbreiteten Erinnerungsbilder an die Vertreibung in den deutschen Medien auch weiterhin vorherrschend geblieben. Die irrtümliche Deutung jener Ereignisse als eine gegen Deutschland gerichtete und aus Hass und Rache getroffene Strafmaßnahme der Siegermächte ist bis heute verbreitet."
(S. 587).

Das Buch stellt grundsätzliche Fragen zum Thema Vertreibung, ist aber in seiner Beweisführung zuweilen irritierend. Es will das gängige bundesdeutsche Erinnern an die Vertreibung nicht nur korrigieren. Sein Anspruch ist ein höherer: Es fordert vehement ein radikales und grundlegendes Überdenken der bundesdeutschen Erinnerungskultur an die Vertreibung. Die Studie sieht weitgehend nur völkische Kontinuitätslinien und verliert dabei den eingetretenen Wandel aus dem Blick. Um Differenzierung bemüht, neigt sie dennoch zu Pauschalierungen.

Ihr Erklärungsansatz ist einseitig. Indem sie in der nationalsozialistischen Eroberungs-, Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik die alleinige Erklärung für die Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen während und am Ende des Zweiten Weltkriegs sieht, fällt sie in einem zentralen Punkt hinter den erreichten Forschungsstand zurück. Auch blendet das Buch den Gegenpart zum deutschen Erinnern aus, den Umgang mit der Vertreibung in den ostmitteleuropäischen Staaten gerade während des kalten Krieges.

Die Autoren argumentieren interessengeleitet und zuweilen bedenklich. War das Erinnern an die Vertreibung in der DDR wirklich reflektierter? Das Buch stellt die deutschen Erinnerungsbilder um die Vertreibung in Frage, nicht immer mit einer überzeugenden Begründung. Ist die monumentale "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa", der auch die Autoren eine Reihe ihrer Argumente entnehmen, lediglich eine endlose Sammlung von Gräuelberichten? Selbst den Begriff "Vertreibung" stellen sie in Frage, seien doch nur 4,8 Millionen deutsche wirklich von den Alliierten vertrieben worden.

Sie stellen zu Recht die kursierenden überzogenen Zahlen über die von der Zwangsmigration Betroffenen und der dabei Umgekommen in Frage. Ja, sie stellen die gesamte bisherige Forschung zum Thema nicht nur in Frage sondern auch an den Pranger. Das Buch kritisiert mit Recht enthistorisierte Geschichtsbetrachtungen, ist aber vor ahistorischen Haltungen selbst nicht gefeit. War eine frühe Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch die Bundesrepublik wirklich eine Alternative, die den Deutschen den Mythos Vertreibung erspart hätte? Die Studie ist ein zuweilen Detail versessenes Manifest.

Sie ist ein nicht immer leicht zu lesendes leidenschaftliches und streitbares Plädoyer für eine noch zu leistende kritische, empirisch-analytische Forschung zu den "Massenumsiedlungen der Deutschen", ein Anspruch, den die Studie nur bedingt einlöst. Sie will aufrütteln und unter bewusster Hinnahme von Wiederholungen aufklären. Das Buch regt im guten Sinn auf und an, auch zu notwenigem Widerspruch.


Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im Erinnern der Deutschen. Legenden, Mythos, Geschichte
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010.
Cover. "Hahn: Die Vertreibung im Erinnern der Deutschen"
Cover. "Hahn: Die Vertreibung im Erinnern der Deutschen"© Verlag Ferdinand Schöningh