Die verlorene Generation

Von Reinhard Spiegelhauer · 12.09.2013
Die Lage in Spanien ist dramatisch: Mehr als die Hälfte der unter 25-Jährigen ist arbeitslos. Es trifft nicht nur schlecht Ausgebildete, auch Hochqualifizierte leiden unter der Krise. Zehntausende haben das Land bereits verlassen, um im Ausland ihr Glück zu suchen.
Die vierspurige Avenida de Asturias führt quer durch das Barrio Almenara. Rechts und links verlaufen, durch Grünstreifen abgetrennt noch die "laterales" zusätzliche Fahrspuren, von denen aus Anwohner in die kleineren Wohnstraßen abbiegen können. Almenara ist eines der gepflegteren Stadtviertel Madrids: Als die großzügige Asturien-Avenida gebaut worden ist, sind hier im Nordwesten der Stadt, viele moderne Wohnblocks entstanden. Hier lebt auch Oscar Rodriguez. In der schmalen Küche mit weißen Fronten bereitet er gerade Kaffee zu:

"Ich bin 26, lebe in Madrid und habe Tiermedizin studiert. 2010 bin ich fertig geworden, seitdem habe ich keine richtige Arbeit gefunden."

Löffel für Löffel füllt Oscar den Kaffee in den Filter, die zum Pferdeschwanz gebundenen, langen Haare schwingen hin- und her. Er trägt T-Shirt, Jeans, Lederarmbändchen und Ohrringe – der Stil, der vielen jungen Spaniern gefällt. Auch das bachillerato und die Uni-Aufnahmeprüfung machen immer mehr junge Leute, um mit diesem Abitur dann auf einen Hochschulabschluss zu studieren – wobei die spanische Licienciatura im Rahmen des Bologna-Prozesses zunehmend Bachelor- und Master-Abschlüssen weicht. Doch bei einer Jugendarbeitslosigkeitsrate von 56 Prozent ist es auch mit Uni-Abschluss schwierig, einen Job zu finden. Ohne Arbeit und ohne Geld bleibt vielen jungen Spaniern - genauso wie Oscar - nichts anderes übrig, als bei den Eltern wohnen zu bleiben:

Auch nach dem Studium: Wohnen bei den Eltern
"Bei meinen Eltern wohnen zu können ist gut, ich habe ein Dach über dem Kopf, aber in meinem Alter willst du dich doch gerne langsam selbstständig machen und dein eigenes Leben leben. Meine Eltern verstehen das, auch wenn sie mich gerne hier haben – aber sie können mir ein eigenes Leben auch nicht finanzieren."

Dabei geht es der Familie im Vergleich noch recht gut: Beide Eltern haben Arbeit. Sie führen kein Leben in Saus und Braus, aber es reicht zumindest, um Oscar weiter mit durch zu füttern.

Der Kaffee ist durch gelaufen – Oscar hat eine ganze Kanne aufgesetzt, denn er wartet auf seine Freundin Zoe, jetzt ist sie da. Auch sie hat Tiermedizin studiert, auch sie sucht seit Jahren erfolglos einen Job. Zoe und Oscar setzen sich zusammen, um ihre jeweiligen Bewerbungsunterlagen auf den letzten Stand zu bringen – dann geht es los auf eine Tour durch die Stadt, um Bewerbungen abzugeben. In kleineren und größeren Tierarztpraxen und –Kliniken, wie dieser:

"Hallo, ich würde gerne eine Bewerbung einreichen."
"Ok, lasst sie hier, ich reiche sie an den Personalchef weiter, gut?"
"Vielen Dank!"

Eine freie Stelle gibt es nicht, aber immerhin kann Oscar seine Karte und eine Preisliste da lassen: Zuhause kann er einfache Blut- und Gewebeuntersuchungen machen – wenn ihm die Klinik hie und da Proben zur Analyse schicken würde, wäre das immerhin etwas.

Die Preise sind gut, sagt der Tierarzt, aber die Klinik macht die meisten Analysen im eigenen Labor im Haus. Und auf absehbare Zeit gibt es sicher auch keinen Bedarf, das Personal aufzustocken, sagt der Geschäftsführer:

"Es gibt viel mehr Bewerber als offene Stellen. Wir zum Beispiel haben seit fünf, sechs Jahren kein Fachpersonal eingestellt. Wir kriegen pro Tag drei, vier Bewerbungen."

Steigende Preise, gekürzte Löhne
Das Wartezimmer ist zwar nicht leer, aber die Klinik spürt die schwere Krise, in der Spanien steckt, sehr deutlich. Die Regierung spart, und das merken die Menschen in der Geldbörse: Die Mehrwertsteuer ist von 18 auf 21 Prozent gestiegen, in vielen Bereichen ist der reduzierte Steuersatz von sieben Prozent weggefallen. Löhne sind gekürzt worden, viele haben ihren Job verloren oder, wie Oscar, nach der Ausbildung nie einen Arbeitsplatz gefunden. Aus all diesen Gründen ist die Binnennachfrage in Spanien stark eingebrochen. Und natürlich geben die Menschen da auch weniger Geld für ihre Haustiere aus. Es fängt beim Futter an und endet beim Tierarzt:

"Klar gibt es noch Patienten, aber wir bekommen vor allem Notfälle. Termin für normale, harmlosere Sachen werden fast nicht mehr verlangt. Nur wenn es um chirurgische Eingriffe geht oder besonders seltsame Symptome. Wir haben ein Dutzend Tierärzte hier, das reicht völlig aus, um die Nachfrage zu befriedigen. Wir würden wirklich gerne einstellen, denn das würde bedeuten, dass es der Klinik gut geht, und die Krise vorbei ist – aber im Moment gibt es einfach nicht genügend Klienten, um jemanden einzustellen."

"España va bien" – Spanien geht´s gut: die Band Ska-P hat diesen vielzitierten Ausspruch des ehemaligen Ministerpräsidenten José María Aznar in einem Song verarbeitet. In der achtjährigen Regierungszeit des Konservativen, von 1996 bis 2004, wuchs die spanische Wirtschaft geradezu atemberaubend. Die Wachstumsrate lag mit gut vier Prozent etwa doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Die Arbeitslosigkeit sank von gut 20, auf etwas mehr als 10 Prozent, die Quote der jugendlichen Arbeitslosen von 40 auf etwas mehr als 20 Prozent.

Die Aznar-Regierung baute das System der Zeitverträge aus, privatisierte Staatsbetriebe wie Telefonica und den Mineralölkonzern Repsol, vor allem aber förderte sie den Bauboom – unter anderem, indem sie die Ausweisung von Bauland erleichterte. Schon damals waren die spanischen Ska-Punker skeptisch – tatsächlich profitieren doch nur wenige, behaupteten sie bissig in ihrem Song von 1998:

In Spanien läuft´s gut, zumindest für die, für die es immer gut läuft, so heißt es im Text: für Banker, Bürgermeister und für den Ministerpräsidenten.

Tatsächlich sind über die Jahre massenhaft Korruptionsfälle rund um die Ausweisung von Bauland und die Vergabe öffentlicher Aufträge bekannt geworden – auch im aktuellen Parteienfinanzierungsskandal rund um die regierende Volkspartei werden Verflechtungen hinein in Korruptionsnetzwerke vermutet. Doch zunächst schien alles traumhaft:

Vorbei: Von Spaniens Bauboom sind viele faule Kredite übriggeblieben
Vorbei: Von Spaniens Bauboom sind viele faule Kredite übriggeblieben© picture alliance / dpa/Alexander Rüsche
Die Immobilien-Blase platzt
Jahre, beinahe Jahrzehntelang warfen Immobilien in Spanien traumhafte Renditen ab. Warnungen, dass komplett am Bedarf vorbei gebaut würde, überhörten alle Beteiligten geflissentlich. Banken vergaben großzügig Kredite zu Niedrigstzinsen, an Häuslebauer ohne Sicherheiten und an Bauträger mit zweifelhaften Großprojekten. Doch am Ende kam es, wie es kommen musste: die Blase platzte. Im Zuge der Zinskrise konnten plötzlich viele ihre Kredite nicht mehr bedienen – nach der Lehman-Pleite verschärfte sich die Entwicklung noch. Die Bau- und Immobilienwirtschaft brach komplett zusammen.

Praktisch mit einem Schlag wurden rund eine Million Menschen arbeitslos. Darunter auch massenhaft junge Leute: Viele hatten während des Booms die Schule abgebrochen, weil sie auf dem Bau sofort gut Geld verdienen konnten. Sogar Ungelernte konnten mit Überstunden und Wochenendarbeit an die 5000 Euro im Monat verdienen. Doch als dann reihenweise Baufirmen Pleite gingen, standen sie plötzlich auf der Straße – ohne Qualifikation und praktisch ohne Aussicht auf eine neue Arbeit. Viele schlagen sich bis heute mit gelegentlichen Nebenjobs, mit Schwarzarbeit oder mit der Hilfe der Familie durch.

Seit drei Jahren Klinkenputzen
Als Oscar 2010 seinen Universitätsabschluss machte, lag die Jugendarbeitslosigkeit schon bei rund 40 Prozent - und die Krise war auch bei Fachkräften und Akademikern angekommen. Seit drei Jahren geht Oscar nun schon Klinkenputzen, bisher ohne Erfolg:

"Ich weiß nicht mehr, wie viele Lebensläufe ich in all der Zeit verschickt oder persönlich abgegeben habe. Es ist manchmal schon frustrierend, einen nach dem anderen abzugeben, und oft nicht mal zurück gerufen zu werden. Manchmal ist es schon ein gutes Gefühl, überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, auch wenn sie dich am Ende nicht nehmen. Aber immerhin geben sie dir das Gefühl, es könnte einmal klappen. Aber es gibt auch Tage, da fühlst du dich mies, weil du so viele verschickst und sich wochenlang überhaupt niemand meldet. Das frustriert schon ein bisschen."

Ein paar Kilometer weiter südlich, im Stadtzentrum, sitzt derweil Javier Pueyo in seinem Büro in der Zentrale des Gewerkschaftsbundes Comisiones Obreras. Die Geschichte von Oscar wiederholt sich täglich tausendfach, sagt der Gewerkschafter, der kaum älter ist als der arbeitslose Tiermediziner. Bei immer mehr Jugendlichen mache sich Hoffnungslosigkeit breit:

"Tatsächlich sieht es so aus, dass es seit Beginn der Krise ohne Ausnahme von Quartal zu Quartal weniger Jugendliche sind, die Arbeit haben, oder sie aktiv suchen. Sie sind entmutigt. Manche versuchen, sich weiterzubilden, um doch einen Job zu finden – aber viele andere glauben ganz einfach nicht mehr daran, dass sie unter den augenblicklichen Bedingungen Arbeit finden können. Und wir beobachten auch das Phänomen, dass inzwischen Zehntausende ins Ausland gehen."

Der junge Spanier Jon Serrano macht ein Praktikum in einem Sanitätsbetrieb in Bad Homburg.
Der junge Spanier Jon Serrano macht ein Praktikum in einem Sanitätsbetrieb in Bad Homburg.© picture alliance / dpa
Ein Tropfen auf den heißen Stein
Deutschland bietet jungen Spaniern, die Zuhause keine Arbeit finden, sogar Unterstützung an. Im Mai haben die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und ihre spanische Amtskollegin Fatima Bañez eine entsprechende Absichtserklärung unterschrieben:

"Ich glaube, das Memorandum, das wir heute unterzeichnet haben, eröffnet vielen jungen Spaniern Möglichkeiten, die sie im Moment wegen der Krise in ihrer Heimat nicht haben. Vielen Dank Frau Ministerin, für ihre Sensibilität dafür und ihren Einsatz. Danke, dass jährlich 5000 spanische Jugendliche einen Ausbildungsplatz oder einen qualifizierten Job in Deutschland bekommen werden. Wir müssen Raum für Zusammenarbeit schaffen, und am besten ist es, wenn das im Bereich Arbeit geschieht."

Von der Leyen: "Wenn innerhalb Europas Wissen angeboten wird, zum Beispiel durch Ausbildungsplätze, ist das eine Chance für junge Menschen, die innerhalb Europas sich frei bewegen können und dort Ausbildung und Wissen auch erlangen. Diese jungen Menschen werden eines Tages weiter ziehen in Europa und dieses Wissen weiter tragen – das sind die Fachkräfte der Zukunft, die durchaus auch in ihre Heimatländer zurückkehren werden und dort auch ihre eigenen Unternehmen aufbauen oder in Unternehmen mitarbeiten. Das heißt: für uns in Europa ist so wichtig, jungen Menschen Perspektiven zu geben, denn unsere Konkurrenten, das ist der globale Arbeitsmarkt."

Angesichts von rund einer Million arbeitsloser Spanier unter 25 Jahren sind 20.000 Lehrstellen bzw. Jobs im Verlauf von vier Jahren allerdings höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein. Viele junge Leute, die sich für einen Job in Deutschland interessieren, unterschätzen aber die Probleme. Sprachbarriere, kulturelle Unterschiede, selbst das kühle Klima können so hohen Leidensdruck erzeugen, dass die hoffnungsvoll nach Deutschland gegangenen, nach wenigen Wochen oder Monaten die Flucht ergreifen. Nicht umsonst suchen weitaus mehr junge Spanier ihre Chance in Lateinamerika als etwa in Deutschland.

Mehr als 300.000 junge Spanier zwischen 15 und 29 hätten sich alleine im vergangenen Jahr bei spanischen Botschaften im Ausland angemeldet, warnen Gewerkschafter besorgt – und Arbeitsministerin Bañez muss sich im Parlament schon mal gegen den Vorwurf verteidigen, die Regierung fördere einen fatalen Brain Drain – die Abwanderung besonders kluger Köpfe, die dringend gebraucht würden, wenn die akute Krise überwunden sei:

"Es stimmt, dass viele Junge und nicht mehr ganz so Junge das Land wegen der Krise verlassen haben, um neue Möglichkeiten zu suchen. Das nennt sich Mobilität. Wofür wir uns einsetzen ist, dass gehen kann, wer es möchte, dass solch abgewandertes Talent so bald wie möglich zurückkehrt. Das ist unsere Verpflichtung und dafür arbeiten wir."

Die Realität sehe aber ganz anders aus, sagt Gewerkschafter Javier Pueyo: In Wirklichkeit verschlimmere die Regierungspolitik die Jugendarbeitslosigkeit immer weiter.

"Sie betreibt weiter eine radikale Kürzungs- und Sparpolitik. Öffentliche Dienstleistungen und Sozialleistungen werden weiter gekürzt, der Arbeitsmarkt dereguliert – das ist es, was die Regierung macht. Sie kann natürlich behaupten, was ihr nützlich scheint, bewerten muss man aber, was sie tut. Sie betreibt eine Spar- und Kürzungspolitik, die dem Land die Luft abdrückt."

"Sozialausgaben streichen, Renten kürzen, Immigranten abschieben – das ist Politik für Reiche, Unternehmer, Banker" – 15 Jahre nach seinem Erscheinen finden viele junge Spanier wie Oscar den zynischen Ska-Punk Titel "España va bien" aktueller denn je.

"Meine Zukunftsaussichten schätze ich eher düster ein. Hier in Spanien sehe ich eigentlich keine Zukunft, weil es keine Arbeit gibt. Ich sehe meine Zukunft auch nicht in Europa, sondern weiter weg. in den USA, Kanada, Australien oder auch in Afrika. In Afrika gibt es Staaten mit enormem Wachstum, dort könnte man Arbeit finden."
Junge arbeitslose Spanier, die in Ulm ausgebildet werden.
Junge arbeitslose Spanier, die in Ulm ausgebildet werden.© picture alliance / dpa / Stefan Puchner