Die vergessene Schiffstragödie

Von Alexander Göbel · 26.09.2012
Fast 2000 Menschen starben vor zehn Jahren bei dem Untergang der senegalesischen Atlantikfähre "Joola". Es war eine der größten Havarien seit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch ist darüber bis heute nur wenig bekannt: Hintergründe werden vertuscht, Verantwortliche nicht zur Rechenschaft gezogen.
"Es war meine erste Reise auf einem Schiff. Früher bin ich immer mit dem Bus nach Dakar gefahren. Aber mein Bruder hatte ein Ticket für die Joola, er war beim Militär und musste nach seinem Urlaub zu Hause wieder zur Arbeit - und ich wollte ihn begleiten. Als wir im Hafen von Ziguinchor ankamen, sahen wir, wie viele Menschen auf die Joola wollten. Das Schiff war lange nicht im Einsatz gewesen, wegen großer technischer Probleme. Nun schien es repariert und jeder wollte mitfahren - schließlich kommt man mit dem Schiff viel schneller nach Dakar als auf dem Landweg. Ich weiß noch, dass ich damals dachte: Der Kahn ist zu voll, einfach zu viel Gepäck, viel zu viele Passagiere..."

Pierre Coly sitzt in seinem kleinen Garten in Ziguinchor, in der Casamance - tief im Süden des Senegal. In den Händen hält er ein gerahmtes Foto seines großen Bruders: stolz, lächelnd, in Uniform. Pierre streichelt sanft über das Bild - es ist die wertvollste Erinnerung an seinen Bruder - seine Leiche wurde nie gefunden.

26. September 2002, gegen 13.30 Uhr. Die Joola legt in Ziguinchor ab. Entlang der Küste geht es nach Norden, in Richtung Gambia - Senegals Hauptstadt Dakar soll am nächsten Morgen erreicht werden. Die Fähre ist völlig überfüllt - mit Markthändlern, Touristen, mit Schülern und Studenten, die nach den Ferien nach Dakar zurück müssen. Wegen der großen Hitze und der engen Kabinen im Inneren des Schiffes lassen sich viele Menschen an Deck nieder - jeder Zentimeter ist belegt. Gebaut wurde die Joola für maximal 580 Passagiere und Besatzung - an jenem Tag sind mehr als dreimal so viele Menschen an Bord. Die genaue Zahl wurde nie ermittelt, senegalesische Experten gehen von über 2000 Passagieren aus. Viele haben keine Tickets - im westafrikanischen Fährverkehr damals durchaus üblich.

Um 22 Uhr passiert die Joola die Mündung des Gambia-Flusses. Die Hälfte der Strecke ist geschafft. An den Maritime Security Center in Dakar meldet der Kapitän beste Bedingungen. Doch eine Stunde später gerät das Schiff in einen schweren Sturm. Die extrem überladene Joola wird zum Spielball von meterhohen Wellen.

"Ich hörte einen lauten Knall, als hätten wir etwas gerammt, als wären wir auf Grund gelaufen. Viele Menschen wurden nervös, wir alle fragten uns: Was ist los? Ich erinnere mich daran, wie Panik ausbricht: Ich höre Schreie von Frauen und Kindern. Ich kann die Todesangst noch immer spüren. Das Schiff wackelt, es kippt zur Seite, nach links... Dann fällt plötzlich der Strom aus, es ist dunkel, man kann die Hand nicht mehr vor Augen sehen."

Panik erlebt auch der damals 19-jährige Malang Bandji - im Restaurant der Joola, wo am Abend eine Band spielt:

"Ich war mit meinen Freunden unter Deck. Plötzlich - boom! -, das Boot schaukelt hart nach links, und dann wieder zurück. Ich versuche noch, meine Freunde zu beruhigen. Nur ein paar Sekunden später kippt der Rumpf wieder nach links, so weit, dass die Leute auf der rechten Seite nach links fallen, viele Meter weit, sie stürzen gegen die Bar in der Mitte, auf uns drauf; ich sehe die Instrumente der Musiker, wie sie durch den Raum fliegen. Da war mir klar: Das hier ist was Ernstes.

Ich versuche noch, mich von den Körpern zu befreien, die auf mir liegen - und rauszukommen, nach oben. Ich war nicht groß und ich dachte, irgendwie komme ich schon hoch an Deck. In diesem Moment kentert das Schiff."

Es dauert kaum fünf Minuten - dann ist nur noch der orangefarbene Rumpf der Joola zu sehen. Unter sich begräbt er die Passagiere, die Crew, und viele Fracht-Container. Im Bauch des Schiffes spielen sich kaum vorstellbare Szenen ab. Patrice Auvray aus Frankreich ist damals mit seiner Freundin Corinne auf der Joola unterwegs:

"Als das Schiff kenterte, dachte ich, dass wir alle tot sind. Ich habe mich jedenfalls gefühlt, als sei ich tot. Es war rätselhaft - ich war vollkommen ruhig. Die Gänge und Flure unter Deck waren völlig blockiert, das Schiff stand ja Kopf, überall Chaos - und es war völlig dunkel. Draußen wütete der Sturm. Ein Blitz hat mich gerettet, denn in dieser einen Sekunde von grellem Licht konnte ich ein Kabinenfenster erkennen. Irgendwie konnte ich das Fenster öffnen und mich durchzwängen. Ich versuchte zu tauchen, es war sehr schwer, das Schiff sank und zog alles mit in die Tiefe. Mit ein paar anderen Leuten klammerte ich mich an einer Holzplanke fest - bis zum nächsten Morgen: Pirogenfischer haben uns aus dem Wasser geholt."

Erst viel später begreift Patrice: Er sitzt ohne seine Freundin im Fischerboot. Corinne hat die Katastrophe nicht überlebt. Zu viele Menschen hätten sie unter Wasser gezogen, glaubt Patrice - in ihrer panischen Verzweiflung, sich selbst an irgendetwas festzuhalten. Aber gegen den gewaltigen Sog eines im Sturm gekenterten, schweren Schiffes von 79 Metern Länge und zwölf Metern Breite kommt in diesen Minuten ohnehin kaum jemand an. Viele Menschen sind im Inneren des Schiffes eingesperrt, andere ertrinken, während sie in den Fluten vor der Küste Gambias vergeblich auf Hilfe warten.

Am nächsten Morgen ist die See wieder ruhig, Fischer können mit ihren Booten noch einige Überlebende aus dem Wasser ziehen. Sie hören Klopfgeräusche und Schreie, die aus der umgekippten Fähre dringen. Doch gegen 15 Uhr rutscht der Rumpf der Joola unter die Wasseroberfläche - das Schiff sinkt binnen weniger Minuten. Die Schreie verstummen.

Erst einen Tag später erreichen Rettungsteams endlich den Ort der Havarie. Darunter auch Haidar El Ali, ein im Senegal aufgewachsener Libanese - und ausgebildeter Taucher:

"Es war unvorstellbar. Das Schiff war sehr groß, der Bauch zeigte nach oben, es schwebte wie ein toter Fisch im Strom. Überall schwammen Leichen, wirklich überall. Wir haben uns in Gruppen von Tauchern organisiert, um die Leichen zu bergen. Andere Teams haben die Toten abtransportiert und sie in Leichenhallen gebracht. Es war furchtbar. Wir waren ja erst 20 Stunden nach der Havarie am Schiff - und nach so langer Zeit war klar: Auf der Joola war kein Leben mehr, es würden viele, viele Tote sein."

Mindestens 1900 Menschen sterben bei der Havarie der Joola, möglicherweise auch mehr. Nur 551 Tote können geborgen werden, davon werden nur 93 identifiziert und ihren Angehörigen übergeben. Die übrigen Leichen werden in Massengräbern auf neu errichteten Friedhöfen begraben. Nur 64 Passagiere haben die Katastrophe überlebt. Darunter eine einzige Frau.

Wenige Tage nach dem Unglück beginnt die Untersuchung. Französische Experten legen einen Bericht über die Ursachen der Joola-Havarie vor. Neben der grob fahrlässigen Überladung habe der Sturm eine wichtige Rolle gespielt, aber auch die Tatsache, dass die Joola in hoher See unterwegs war - denn dafür war sie nicht gebaut. Dem Hersteller, der Deutschen Schiffswerft Germersheim GmbH, wird kein Vorwurf gemacht: Die Joola war 1990 vom Stapel gelaufen, mit zwei Motoren, ausgerüstet mit den damals besten Sicherheitsstandards.

Als Hauptgrund für die Katastrophe nennen die Experten die schlechte Wartung des Schiffes durch den Eigner - den senegalesischen Staat. Immer wieder wird im Bericht Premierminister Mame Madior Boye erwähnt: Er habe von den technischen Mängel der Joola gewusst - und auch bei der Rettungsaktion zögerlich und viel zu spät gehandelt. Der damalige Präsident Abdoulaye Wade entlässt seinen Regierungschef - und weitere hohe Beamte. Köpfe rollen auch unter den Offizieren der Armee, andere werden versetzt, den Hinterbliebenen wird eine Entschädigung von umgerechnet 15.000 Euro gezahlt. Das ist alles. Die Akte Joola wird schon im Sommer 2003 geschlossen - kaum ein Jahr nach einer der größten Schiffskatastrophen der Geschichte. Das Trauma wird nicht verarbeitet. Alpha Dia, ein ehemaliger Soldat aus der Casamance:

"Ich habe meinen Sohn verloren, meine Nichten und meine Enkelkinder. Zehn Jahre nach diesem Unglück sind wir Hinterbliebenen noch immer völlig verzweifelt. Der Staat hätte die verdammte Pflicht, die Familien der Opfer zu unterstützen. Stattdessen vergisst man unsere Tragödie und trampelt auf unseren Gefühlen herum. Das ist ein Skandal. Es ist schlimm!"

Auch der Franzose Patrice Auvray ist daran zerbrochen - so gut wie mittellos lebt er immer noch im Senegal, dort, wo seine Freundin starb. Seine Familie in Frankreich hat er verlassen.

"Man hat die senegalesische Justiz geknebelt, so wie man es auch mit der französischen gemacht hat. Wir fordern, dass dieser Fall neu aufgerollt wird. Unter Senegals Präsident Wade gab es keine Untersuchung, die diese Bezeichnung verdient hätte! Nun gibt es eine neue Regierung, und die muss sich endlich darum kümmern."

Die Erwartungen an Präsident Wades Nachfolger Macky Sall sind hoch - angesichts der leeren Staatskassen vielleicht zu hoch. Es geht nicht nur um die Reparationen, sondern auch um Wirtschaft und Politik. Der Untergang der Joola bedeutete für die Casamance, die Enklave südlich von Gambia, eine Katastrophe. Die Fähre war die wichtigste, günstigste und schnellste Verbindung zwischen Süd und Nord. Sie hatte zweimal pro Woche in Ziguinchor abgelegt und auch Markthändler mitgenommen, die Mangos, Palmöl und andere Waren in Dakar verkaufen wollten. Darunter auch der Fischer Francois Touré:

"Wir haben große Probleme, seit es das Schiff nicht mehr gibt. Bis zu dem Unglück hatten wir all unsere Waren auf der Joola transportiert - ich habe immer fangfrische Langusten und Crevetten nach Dakar gebracht, auch Fisch, Seezunge zum Beispiel. Es gab da eine Tiefkühlanlage, das war ideal. Heute gibt zwar neue Schiffe, aber auf denen kann man keinen Fisch transportieren, jedenfalls nicht über eine so lange Strecke. Seit es die Joola nicht mehr gibt, verkaufen wir nichts mehr in Dakar, es gibt kaum noch Arbeit für uns."

Nach dem Untergang der Joola dauert es drei Jahre, bis die Fähren Willis und später die Aline Sitoe Diatta den Betrieb aufnehmen: mit weit weniger Kapazitäten - und strenger Kontrolle der Passagierzahl.

Zehn Jahre nach dem Unglück sind die Menschen in der Casamance noch immer gezeichnet vom Schmerz. Viele leiden an Depressionen, können am Alltagsleben kaum noch teilnehmen. Der Psychologe Omar Ndoye betreut viele Angehörige von Opfern in der Region:

"Nach der Bergung der Toten blieb uns in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als Fotos der Opfer an einer großen Wand aufzuhängen. Für die Angehörigen war dieser Anblick kaum zu ertragen. Sie schrien, sie warfen sich auf den Boden, gegen die Wand, brachen zusammen. Der Senegal erlebte eines der furchtbarsten Dramen seiner Geschichte, und er hat sich eigentlich nie davon erholt. Es waren so viele Opfer. Fast jeder hier hatte Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Arbeitskollegen oder Freunde verloren. Der Schock angesichts der entstellten Wasserleichen war zu groß. Und deshalb wurde das Schiff auch bis heute nicht gehoben - auch wenn dadurch noch mehr sterbliche Überreste von Toten gefunden werden könnten."

Viele Überlebende und Familienangehörige fühlten sich allein gelassen und vergessen, sagt Ernest Manga, damals noch Taxifahrer in Ziguinchor:

"Ich habe im Radio gehört, was passiert war. Ich saß im Auto und konnte nichts tun - das war das Schlimmste. So lange dieses Schiff hier auf dem Grund des Flusses liegt, denke ich an meine Familie, die ich dort verloren habe. Seit damals kann ich nicht mehr arbeiten. Ich hoffe, dass man die Joola eines Tages bergen wird, damit ich endlich wieder Frieden finde."

Pierre Coly, der damals seinen Bruder nach Dakar begleiten wollte, verzweifelt an seinen Schuldgefühlen. Daran, dass er überlebt hat - als einer der ganz wenigen:

"Überall in diesem Viertel trauern Menschen - Angehörige der Opfer. Sie quälen sich mit der Frage nach dem Warum. Warum sie? Warum sind ihre Kinder, warum ist ihre Mutter, warum ist ihr Vater nicht lebend aus der Joola rausgekommen? Die Leute rufen mir hinterher: "Ah, das ist einer, der sich retten konnte", als hätte ich Schuld an ihrem Schmerz. Für sie bin ich ein Zombie - kein normaler Mensch mehr."

Warum? Das fragt sich auch Marie-Hélène Mendy - sie steht auf dem weißgekalkten Friedhof in Kantène am Ortsausgang von Ziguinchor und starrt auf den Boden. Irgendwo hier, unter einer der namenlosen Steinplatten, liegen die sterblichen Überreste ihres Mannes:

"Wir tun unser Bestes, wir leben weiter, aber es ist schwer. Ich bin Witwe und habe zwei Kinder. Ich bin krank und kann kaum arbeiten, und ich bin vom Staat abhängig. Zehn Millionen Franc haben wir bekommen, das sind 15.000 Euro, als Entschädigung. Aber ein Menschenleben kann man nicht entschädigen oder irgendwie zurückkaufen! Dieses Geld hat nicht geholfen, im Gegenteil - es hat die Familien zerstört, weil sich die Angehörigen darum gestritten haben, wer es bekommen soll. In meinem Fall hat die Familie meines Mannes alles behalten."

Viele Familien haben heute das Gefühl, der senegalesische Staat habe sich mit dem Geld freikaufen und die Tragödie schnell vergessen machen wollen. Zehn Jahre danach müsse endlich Schluss sein mit dem Schweigen, fordert Eliboya Diatta vom Verband der Joola-Opfer in Ziguinchor. Das Schiff müsse endlich an die Oberfläche - und mit ihm die schmerzhafte Wahrheit:

"Wir glauben, dass das Boot gehoben werden sollte - dann hätten die Familien endlich einen Ort, an dem sie richtig trauern könnten. Dieses Drama hat massive psychosoziale Folgen, die noch gar nicht alle absehbar sind. Um das Trauma der Joola zu verarbeiten, muss die Wahrheit endlich auf den Tisch. Die neue Regierung des Senegal hat hier eine große Chance: Sie könnte beweisen, dass sie es ernst meint mit der Justiz, und auch mit der Aufarbeitung. Die Regierung könnte und müsste die Akte Joola noch einmal öffnen - und die Verantwortlichen bestrafen."