Die vergessene Hinterlassenschaft deutscher Juden

Von Heinz-Peter Katlewski · 04.11.2011
Mit bekannten Namen lässt sich das Problem am besten illustrieren: Der Physiker Albert Einstein, der Komponist Kurt Weill, der Philosophin Hanna Arendt - sie alle waren nicht nur Deutsche, sondern auch Juden. Als in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, verließen sie das Land. Auch ihr Nachlass blieb in der neuen Heimat.
"Es geht ja darum, dass dieses deutsch-jüdische Erbe Bestandteil der deutschen Kultur ist, und ich vertrete die Ansicht, dass die nichtjüdische deutschsprachige Gesellschaft sich um dieses Erbe kümmern muss oder kümmern sollte."

Professor Julius Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Potsdam. Juden hätten vor allem im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als Ärzte, Wissenschaftler, Künstler und Gelehrte bemerkenswerte Beiträge zur deutschen Kultur geleistet, meint er, und sich mit ihr identifiziert.

Vor allem die Nazi-Jahre von 1933 bis 1945 hätten dazu geführt, dass sie einen großen Teil ihrer Lebensleistung anderen Ländern zur Verfügung gestellt haben, wenn sie nicht in deutschen Konzentrationslagern endeten. Im Ausland sei man häufig nicht in der Lage, die Herkunft aus Deutschland angemessen zu würdigen. Die Nachlässe verstaubten unbeachtet in Archiven, weil in so multikulturellen Ländern wie den USA, Argentinien, Australien oder Israel diese Herkunft eben nicht so wichtig sei.

"Wir wollen mit Zeugnissen, mit Dokumenten, die es weltweit gibt, Zeugnis auch ablegen von der Beziehungsgeschichte, von dem Kulturtransfer durch Emigration, diese Dokumente sichten und in irgendeiner Form zusammen bringen. Das ist das Ziel dieses großen Projektes."

Elke-Vera Kotowski leitet am Moses Mendelssohn Zentrum ein Forschungsprojekt zum deutsch-jüdischen Kulturerbe im In- und Ausland. Es sind nicht zuletzt Flüchtlingsgeschichten, die in den Akten zu finden sind. Sie berichten davon, wie Menschen versuchen, ihre Identität zu wahren und neu zu finden, während sie auf der Flucht fremden Kulturen ausgesetzt sind, Flüchtlingslager überstehen müssen, und schließlich in einer neuen Welt eine neue Heimat finden, aber oft auch Sehnsüchten nach der alten nachhängen.

Die amerikanische Historikerin Atina Grossmann stammt von deutsch-jüdischen Emigranten ab, die sich schließlich in New York niederließen. Ihr Großvater, ein ehemaliger Berliner Rechtsanwalt und Strafverteidiger, verbrachte einen Teil der Nazi-Jahre als Flüchtling im damals britischen Besatzungsgebiet Teheran. In seinen Unterlagen fand sie unter anderem seinen deutschen Pass.

"Hier ist ein Transitvisum durch Palästina. In diesem Pass sind Visas und Transitvisas und Stempeln aus Polen, aus der Sowjetunion, aus Irak, aus Frankreich, aus Palästina. Immer fährt er hin und zurück und durch die Welt und kommt immer wieder zurück nach Teheran."

Mal ist er relativ frei und lebt von In- und Exportgeschäften, mal wird er als deutscher Staatsangehöriger, der er immer noch ist, zum potentiellen Feind gestempelt und von den Engländern interniert. Es ist ein Leben in Bewegung: viele Jahre als Flüchtling in Innerasien, weitere dann als vermeintliche Bedrohung im Himalaya in einem britischen Internierungslager, dann wieder frei im tropischen Bombay, aber "frei" ohne Pass, ohne gültige Papiere. Atina Grossmann zitiert aus einem Text ihres Großvaters:

"Ich möchte wieder einmal nachts unter einer Wolldecke schlafen müssen, in ein Theater gehen, nur europäisch gekleidete Menschen um mich sehen, Schnee sehen und Ski laufen, in einem nach meinem Geschmack eingerichteten Zimmer wohnen, einen grünen Laubwald und eine Wiese sehen, am Steuer eines Autos sitzen, über die letzten, vielleicht auch vorletzten Dinge reden können, ein gutes französisches Buch lesen, nicht nur Geld ausgeben, sondern auch verdienen."

Trotzdem wollte Atina Grossmanns Großvater zu keiner Zeit wieder zurück nach Deutschland. Seine neue Heimat wurde Kalifornien. Ein deutscher Jude, der Amerikaner wurde, und später - im Rückblick - sogar die Fluchtjahre in Asien in sein Leben zu integrieren vermochte. Zur Entwicklung seiner persönlichen Identität gehörten deshalb auch andere Länder.

Sie könnten ihn mit ähnlichem Recht als Zeitzeugen in Anspruch nehmen und seine kulturelle Erbschaft antreten wollen. Dem Forschungsanliegen des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums stände das nicht entgegen. Für das spezifisch deutsch-jüdische Kulturerbe würde Professor Schoeps gleichwohl am liebsten ein großes Unternehmen starten, um an allen möglichen Orten alle möglichen Quellen deutsch-jüdischer Auswanderungsgeschichten zu erschließen, bevor sie in der Geschichte versickern.

"Ich wäre schon glücklich, wenn wenigstens eine Koordinationsstelle vorhanden wäre, die dafür sorgt, dass dieses deutsch-jüdische Kulturerbe in irgendeiner Form gepflegt, erfasst und dokumentiert wird."

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