Die Vergangenheit wirkt

Von Astrid von Friesen · 03.03.2008
Schon 1997 schrieb der Philosoph Robert Bly: "Die wachsende Abneigung von Menschen gegen Menschen konzentriert sich heute in der Vernachlässigung der Kinder." Er nannte Gründe: Medienverwahrlosung, mangelnde Moralentwicklung und Infantilität der Erwachsenen, die sich wie "Dauerjugendliche" benehmen.
Dass Kinder bei uns vernachlässigt werden, hören wir wöchentlich: Sie liegen sich wund bis zur Ablösung ihrer Haut, verdursten und verhungern qualvoll, sie werden gefoltert und getötet von den eigenen Müttern und Vätern.

Und dann verkünden zwei kluge Männer, ein Pastor und ein Psychotherapeut, diese schweren Vernachlässigungen oder sogar Kindesmorde hätten überhaupt nichts mit den jeweiligen biografischen Hintergründen der Täterinnen zu tun, womit sie locker hinter die Erkenntnisse von Sigmund Freud vor 100 Jahren zurückfallen.

Jede Tat hat viele gesellschaftliche Aspekte, aber natürlich auch individuelle. Bei den gesellschaftlich bedingten Gründen fallen uns sofort Armut, soziale Isolation, Arbeits- und Perspektivlosigkeit ein. Bei den persönlichen: Überforderung, Persönlichkeitsstörungen oder Alkohol- und Drogenabhängigkeiten sowie geringe Bildung. Höchstwahrscheinlich auch Borderline-Erkrankungen. Diese beruhen auf mangelnder Bindung in der eigenen Kindheit sowie eigene früheste Gewalterfahrungen.

Die Bindungsforschung, welche seit über 40 Jahren weltweit gut fundierte Ergebnisse hervorgebracht hat, besagt folgendes: Bei Kindern, die im ersten und im sechsten Lebensjahr als schlecht gebunden auffällig werden, besteht eine Wahrscheinlichkeit von ca. 80 Prozent, dass sie massive Störungen zu entwickeln. Denn sie konnten kein Urvertrauen aufbauen, sie litten an Müttern, die depressiv, süchtig, psychisch krank oder kalt waren. Oder, so sagen die weltweiten Forschungen, sie wurden zu früh in eine problematische Fremdbetreuung gegeben. Damit sind Krippen mit mehr als vier Kindern pro Betreuerin gemeint.

Und nun die bange Frage: Wie gehen diese Traumatisierten und Erkrankten später mit den eigenen Kindern um? Viele, natürlich nicht alle, geben das weiter, was sie erlitten haben: Hass, Zorn, Schläge, Gewalt. Ihr soziales Verhalten ist so schwer gestört, dass sie keine Mütterlichkeit oder Väterlichkeit ausbilden konnten. Ein Mehr-Generationen-Muster entsteht, und das vielfach.

Auch bei Kindestötungen ist davon auszugehen, dass diese Frauen unbewusst getrieben werden von Familienmustern oder von ihren eigenen Traumatisierungen. Und dazu können frühe Todes- und Missbrauchserfahrungen, aber auch Abtreibungen und alle anderen Formen von Gewalt in der vorherigen Generation gehören.

Doch unser Handeln wird auch von Werten bestimmt: Welchen Wert misst die Gesellschaft etwa dem positiven Aufwachsen von Kindern bei? Ist sie bereit, darin zu investieren? Ebenso ist es im Individuellen: Welche Werte vertreten wir in Existenzfragen wie Sterbehilfe, Embryonen-Forschung, Abtreibung oder Gewalt von Müttern und Vätern? Für mich ist es evident, dass der Verlust von christlichen Werten dabei eine Rolle spielt. Und Ostdeutschland gehört zu den Gebieten, in denen Religiosität am stärksten eliminiert wurde.

Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen forderte kürzlich eine Stärkung der Bürgerlichkeit als Bollwerk gegen zunehmende Gewalt, weil dort am ehesten Gewissensbildung betrieben wird. Das ist plausibel, und darum ist daran zu erinnern: Die DDR hatte nicht nur versucht, den Adel zu vertreiben und zu vernichten, sondern auch das Bürgertum.

So wie die antiautoritäre Erziehung in Westdeutschland Folgen hatte, mal mehr und mal weniger gravierende, so blieb auch die Erziehung zum neuen, sozialistischen Menschen nicht folgenlos. Anderes anzunehmen, wäre mehr als naiv. Aber offensichtlich ist die Versuchung mal wieder groß, dies zu leugnen.

In Westdeutschland gab es – zum Glück - immer eine vehemente, hitzige und lautstarke Kritik an Erziehungsfehlern. Die DDR-Pädagogik jedoch scheint unter einer Schondecke zu ruhen. Niemand darf daran rühren. Und schon der vorsichtigste Kritiker wird unter den Generalverdacht des Verunglimpfens gestellt. Doch die Fragen müssen gestellt und beantwortet werden dürfen: Welche emotionalen Folgen hatten die Wochenkrippen, als Säuglinge von montags bis samstags abgegeben wurden? Wie wirkten Krippen-Gruppen mit mehr als zwölf Kindern pro Betreuerin? Wie war es in den staatlichen Kinderheimen und der strukturellen Gewalt dort? Man höre sich einmal die Malträtierten an, die bis heute um ihren Opferstatus kämpfen.

In der Bibel heißt es: "Der Väter Sünden verfolgt uns bis ins vierte Glied." Man muss hinzufügen: Auch die Sünden der Mütter und die Sünden der offiziellen Erziehung.

Astrid von Friesen, Jahrgang 1953, ist Erziehungswissenschaftlerin, Journalistin und Autorin sowie Gestalt- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg. Sie unterrichtet an der TU Bergakademie Freiberg und macht Lehrerfortbildung. Zwei ihrer letzten Bücher: "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener" (Psychosozialverlag 2000) sowie "Von Aggression bis Zärtlichkeit. Das Erziehungslexikon" (Kösel-Verlag 2003. Zuletzt erschien "Schuld sind immer die anderen! Die Nachwehen des Feminismus: frustrierte Frauen und schweigende Männer", Verlag Ellert & Richter.
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