"Die Vergangenheit wirkt nach"

Hannes Heer im Gespräch mit Gabi Wuttke · 19.03.2010
Der Historiker Hannes Heer hält den Begriff der Ehre, auf den sich Ex-Generalinspekteur Schneiderhan berief, für überholt. "Das ist ein Verständnis, was wirklich vollkommen veraltet und nur aus der Vergangenheit zu erklären ist."
Gabi Wuttke: Wie wichtig ihm die Ehre ist, hat der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr auch bei seiner Aussage vor den Parlamentariern betont, deshalb wollte ich jenseits der Frage, was sich politisch nun entwickeln wird, vom Historiker Hannes Heer wissen, was Ehre eigentlich bedeutet.

Hannes Heer: Ehre ist ein sehr komplexer Begriff und ist ein zentraler Begriff im Mittelalter schon gewesen, und Ehre war immer gebunden an zwei Kennzeichen. Sie hatte etwas zu tun mit einem bestimmten Tugendkatalog und sie war an einen bestimmten Stand gebunden. Das war der Adel, das waren vielleicht auch Patrizier, aber es gab große Teile der Bevölkerung, die keine Ehre hatten: die Leibeigenen zum Beispiel, die Henker, die Abdecker, die Spielleute, die Zigeuner. Und dieser Ehrbegriff ist in die Neuzeit dann auch sozusagen transponiert worden, und es gab eine Hierarchie der Ehre. Gott war derjenige, dem am meisten Ehre gebührte. Es kam der Kaiser, und dann waren es diejenigen, die Teil dieses Gottesgnadenkönigtums oder -kaisertums waren, es war der Adel.

Und das Interessante ist, dass sich aus diesem Stand des Adels, der alleine satisfaktionsfähig war, die Ehrenhändel mit dem Degen ausgetragen haben, wo es Ehrengerichte gab, wo es einen Ehrenkodex gab, dass sich aus diesem Stand des Adels sozusagen ein Element verselbstständigt hat und der eigentliche Ort der Ehre dann geblieben ist, und das war das Militär. Also wenn wir dran denken, zum Beispiel auf dem Feld der Ehre gefallen, oder wenn wir dran denken, unehrenhaft entlassen, das galt nur für das Militär.

Wuttke: Wird dieser Ehrbegriff, den Sie gerade geschildert haben, in der Armee vom einfachen Soldaten genauso verstanden wie vom General?

Heer: Ich glaube, es ist zunächst mal auf das Offizierskorps beschränkt, die definieren sich darüber, über einen Ehrenkodex und über bestimmtes Verhalten. Sie versuchen natürlich – das kann man, wenn man die Geschichte Bundeswehr sich anschaut – sie versuchen natürlich, diesen Begriff auch auf die Truppe zu übertragen. Und es ist sehr interessant, dass bei der Polizei zum Beispiel dieser Begriff gar keine Rolle spielt, die ja auch einen riskanten Beruf ausübt, oder bei der Feuerwehr. Bei der Bundeswehr – es ist bei der Armee, es ist bei den Streitkräften – ist dieser Begriff irgendwie hängen geblieben, und aus Schneiderhan spricht dieses Verständnis heraus.

Wuttke: Nach seinem Rauswurf hatte Schneiderhan ja erst mal geschwiegen, um Guttenberg, dem Bundesverteidigungsminister, dann vorzuwerfen, dessen Verhalten sei ehrenrührig gewesen. Wie schwer – also nach dem, was Sie gerade gesagt haben – wiegt dieses Wort für einen Mann, der 43 Jahre lang Soldat gewesen ist?

Heer: Also ehrenrührig heißt in dem Zusammenhang ja, der hat sich nicht an den Kodex gehalten, solche Konflikte klärt man innerhalb der Truppe, innerhalb des Offizierskorps, und das klärt man nicht durch Rausschmiss. Der Verteidigungsminister nimmt sozusagen die Rolle des früheren Souveräns ein, ist verantwortlich, das ist derjenige, an den man sich wenden kann, das ist ein Kamerad, obwohl er Zivilist ist. Einigen Verteidigungsministern ist das glänzend gelungen, in diese Rolle reinzuschlüpfen, aber es ist erst mal der Anspruch immer da. Und wenn jemand dann also gegen diesen Korpsgeist verstößt, ist das ehrenrührig. Das ist ein Verständnis, was wirklich vollkommen veraltet und nur aus der Vergangenheit zu erklären ist und was mit Bürger in Uniform wenig zu tun hat.

Wuttke: Das deutsche Grundgesetz, seit 1949 in Kraft, kennt die Würde des Menschen und die persönliche Ehre. Wie wirkt die jüngere deutsche Geschichte bis heute nach?

Heer: Die Vergangenheit wirkt insofern nach, als die Bundeswehr, und je mehr sie jetzt in wirkliche kriegsähnliche oder kriegerische Auseinandersetzungen kommt, immer mehr sozusagen in der Perspektive über Kimme und Korn der alten Streitkräfte des kaiserlichen Heeres gesehen wird. Der Schatten der Vergangenheit, würde ich sagen, wird immer deutlicher, je stärker die Bundeswehr wirklich dann zu einer Truppe wird, die als Elitetruppe im Krieg eingesetzt wird.

Wuttke: Sie sagen, die Ehre ist eigentlich ein ganz überkommener Begriff. Kann man trotzdem sagen, dass der Hip-Hop den Ehrenbegriff nach Deutschland zurückgeholt hat für die jungen Leute, auch wenn das jetzt Respekt heißt?

Heer: Ach, ich glaube, das schafft der Hip-Hop … alleine schafft er es nicht. Musik transportiert also sehr viele Vorbilder, transportiert sehr viele Tugenden auch, aber das glaube ich nicht. Ich glaube, das ist … mit einer anderen Tiefenströmung hat das was zu tun. Also wenn ich dran denke, wie dieser neue und angeblich unverkrampfte Patriotismus, also beim letzten großen internationalen Fußballfest in der Bundesrepublik, wie das gefeiert wurde, das ist so eine Tiefenströmung, dass man einfach sich mit der Vergangenheit als Faktum doch nicht so recht anfreunden will, man will es nicht akzeptieren, was da passiert ist, und man springt dann in das, was alle anderen Völker und Nachbarn natürlich auch haben, die freuen sich über die Nationalmannschaft. Das sind für mich so Tiefenströmungen, die dann eher eine Flucht aus der Konfrontation mit der Nazizeit nicht wahrnehmen, die Fakten nicht integrieren dieses Ereignisses und dann eine Flucht hin zu dem, was alle anderen, die Völker, die nicht eine solche Geschichte und nicht eine solche Schuld oder Verantwortung auf sich geladen haben, was die halt zelebrieren, Patriotismus und so weiter.

Aber Patriotismus ist bei uns belastet, das ist kontaminiert, und es gibt keine Diskussion, die wirklich den Begriff klärt, die wirklich auch ein Verhalten definiert, was akzeptabel ist, sondern es ist einer von diesen eigenartig dubiosen, ungeklärten sofort Diskussionen oder sofort Auseinandersetzung hervorrufenden Begriffen. Das ist für mich diese Tiefenströmung. Und im Rahmen dieser Tiefenströmung hin also zu einem angeblich normalen Verhalten in all diesen Dingen, da ordnet sich auch das ein, was jetzt hier so mit Ehre als Begriff da auftaucht, als wenn es wirklich das Schiff des fliegenden Holländers wäre.

Wuttke: Über die Ehre. Dazu im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur der Historiker Hannes Heer!