Die unwirkliche Alpenrepublik

Rezensiert von Jörg Plath · 26.07.2005
Robert Menasse gibt in seinem Essayband "Das war Österreich" einen Einblick in die innere Befindlichkeit der Österreicher. Er klärt uns darüber auf, dass in Österreich zwei Wirklichkeiten parallel zueinander existieren. Das ist zum Teil sehr komisch, allerdings sind Menasses Essays nicht neu.
Robert Menasses Essayband ist ein Begräbnis erster Klasse – daher der Titel "Das war Österreich". Es ist ein Abschied voller Hoffnung. Denn das, was in den Augen des streitbaren und außerordentlich produktiven Essayisten und Romanciers das Ende des alten Österreichs bewirkt – der EU-Beitritt, das in das Land strömende Kapital, die Wahlerfolge des Rechtspopulisten Jörg Haiders –, lässt zugleich ein neues entstehen.

Während andere Linke die Globalisierung fürchten, begrüßt Menasse sie. Mit ihr beginnt nämlich die Normalisierung des kleinen und besonderen Alpenlandes, das einer seiner Kanzler einmal die "Insel der Seligen" genannt hat. Menasse lässt sich das Schmankerl nicht entgehen und weist darauf hin, dass Selige Tote sind. Ihnen steht nun endlich ein richtiges, neues Leben bevor.

Auf 450 Seiten und in 27 längeren und kürzeren Essays zeichnet Menasse den österreichischen Sonderweg nach. Es ist eine materialgesättigte Lektüre der Landesgeschichte, vor allem der Jahre nach 1934, als Dollfuss nach einem kurzen Bürgerkrieg den faschistischen Ständestaat etablierte. Die Grundthese lautet: Die österreichische Wirklichkeit ist ein Widerspruch in sich. Es herrscht die "Entweder-und-Oder"-Regel: Statt sich für das eine oder das andere zu entscheiden, gilt beides – eines öffentlich, das andere insgeheim.

So hat Österreich wie die meisten demokratischen Staaten eine Verfassung und außerdem eine "Real-Verfassung". Was jene vorschreibt, existiert nicht in dieser, und umgekehrt. Zur "Real-Verfassung" gehört etwa die in der Verfassung nicht erwähnte Sozialpartnerschaft, in deren Gremien Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften seit Mitte der Fünfziger Jahre bis in die Gegenwart hinein Wirtschaftsfragen regeln – von der Öffentlichkeit und dem Wähler unkontrolliert. Die Beschlüsse dieser Hinterzimmerregierung, der "Paritätischen Kommission", wurden von der Regierung schnellstmöglich ausgeführt. Zu Auseinandersetzungen oder Streiks kam es so höchst selten.

Dass Interessenkonflikte schon vor ihrer öffentlichen Artikulation geschlichtet werden, lässt die Wirklichkeit unwirklich werden. Wie sehr dies die kollektive österreichische Mentalität prägt, zeigt Menasse im Umgang mit den staatlichen Symbolen Wappen, Münze und Fahne, in der Architektur und der Literatur und vielen anderen Lebensbereichen. Selbst die österreichtypische Endzeitstimmung wird abgeschwächt. Es geht ja immer irgendwie weiter. Auch die Katastrophe ist unwirklich.

Es kostet erhebliche Mühe, an dieser Stelle nicht ausgiebig aus den oft außerordentlich komischen Essays zu zitieren. Die Freude wäre allerdings noch größer, wären diese neu. Doch es sind, auch wenn auf dem Buchrücken irritierenderweise "Original-Ausgabe" steht, "Gesammelte Essays". Herausgeberin Eva Schörkhuber hat sie in Kapiteln wie "Exposition", "Szene", "Szenenwechsel" oder, etwas unbekannter, "Pro- bzw. Analepse" zusammengefasst.

Diese Gliederung macht die Essays zu Bestandteilen eines farcenhaften Theaterstücks, sie erhebt sie zur Kunst. Wohl daher hat Menasse zuweilen das ursprüngliche Präsens zum Imperfekt gemacht. Und wohl deswegen hat Eva Schörkhuber auf jeglichen Drucknachweis verzichtet.

Nun sind die Essays sicher kunstvoll - aber keine Kunst. Sie spielen auf zeitgeschichtliche Ereignisse an, erwähnen Wahlerfolge von Jörg Haider, den EU-Boykott wegen dessen Regierungsbeteiligung und einige weitere Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit. Ohne Hinweise auf diese Zusammenhänge und Anlässe, zumindest aber das Entstehungs- oder Druckdatum wirkt die Beschreibung der unwirklichen Wirklichkeit für den Nichtösterreicher zuweilen selbst etwas unwirklich.

Robert Menasse: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften
Herausgegeben von Eva Schörkhuber.
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005.
458 S., 14 Euro