Die unterdrückte Erinnerung an die Gewaltherrschaft

Von Dorothea Jung · 26.11.2012
Jahrzehntelang war es in der Sowjetunion tabu, über die Kriegsopfer oder die Verschleppungen zu sprechen. Auch über den Gulag durfte niemand reden, berichtet "Memorial"-Geschäftsführerin Elena Zhemkova. Das Verdrängen der erlittenen Traumata wirke auch im heutigen Russland noch nach.
Unterdrückung der Pressefreiheit, Pussy Riot, Putins gelenkte Demokratie, Wahlmanipulation - das sind nur wenige von vielen Stichworten, die deutlich machen, dass die kritischen Debatten über Russland nicht verstummen. Und auch die jüngsten Nachrichten aus Russland seien beunruhigend, sagte Markus Pieper der Gedenkstättenreferent der deutsche Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in seinem Kurzvortrag über die Arbeit von Memorial heute Abend in Berlin:

"Am Mittwoch trat das international scharf kritisierte Gesetz über die sogenannten ausländischen Agenten in Kraft. Demnach gelten in Russland fortan alle gesellschaftlichen Institutionen, die Geldmittel aus dem Ausland erhalten, als ausländische Agenten und stehen als solche unter verschärfter Kontrolle des Staates. Dies wird auch für Organisationen wie 'Memorial' gelten. In der Nacht zu Donnerstag wurde das Moskauer Büro von Memorial von Unbekannten mit den Worten 'Ausländischer Agent ' und 'USA' beschmiert."

Unter Stalin seien Millionen von Menschen als angebliche Spione, Agenten oder Volksfeinde hingerichtet worden, so Markus Pieper. Bis zum Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft habe die Geheimpolizei hinter jeder kritischen Äußerung die Machenschaften feindlicher Agenten gewittert. Und auch Putin bezeichne seine Kritiker oft als vom "Westen gelenkte Individuen".

Elena Zhemkova erklärte, das Gesetz habe eine Bedrohungsfunktion. Es solle die Kritiker still halten. Nicht nur das Memorial-Büro sei beschmiert worden, auch Organisationen wie Transparency International und kleine kulturelle Initiativen seien betroffen.

Die Stiftung hatte mit Elena Zhemkova einen Menschen eingeladen, für den die Aufklärung und die Erinnerung an vergangenes Unrecht ein Gradmesser dafür ist, welchen Stellenwert Freiheit und Menschenrechte in einer Gesellschaft haben. "Erinnerung der Repression - Repression der Erinnerung " hieß der Titel von Elena Zhemkovas Vortrag heute Abend. Ein Titel, der das doppelte Gesicht der Unterdrückung von Erinnerung deutlich macht.

Zum einen meint er die Repression als bewusste Fälschung von Geschichte im Auftrag und im Dienste der Diktatur - und zum anderen meint er die seelische Verdrängung von Gewalterfahrung und von Leid. Beides vernichtet Wahrheit und lebendige Erfahrung, und beides erzeuge Angst, sagt Elena Zhemkova. In den Jahren 1937 und 1938 zum Beispiel seien täglich 30.000 Menschen erschossen worden. "Aber niemand sprach darüber", berichtet Elena Zhemkova, die wir hier mit der Stimme ihrer Dolmetscherin hören.

"Die Verwandten wussten überhaupt nicht was passierte. Also, man hat jemanden in ein entferntes Lager versendet - zehn Jahre ohne Korrespondenz-Erlaubnis- und der Mensch verschwand! Und es ist klar, dass in dieser Zeit totale Angst entsteht. Da es keine Erläuterungen gibt, dann hat man das Gefühl, dass es einen selber auch betreffen kann; und das ist natürlich ein Gefühl, das die Menschen sehr stark beherrscht hat."

Elena Zhemkova zufolge haben die unterschiedlichen Machthaber in der Sowjetunion sich diese Angst in unterschiedlicher Weise zu Nutze gemacht. Während des Krieges durfte weder über das Leiden der Soldaten gesprochen werden noch über das der Zivilbevölkerung. Auch nach dem Krieg war es ein Tabu, zum Beispiel über die Zahl der Kriegsopfer zu reden oder über die Zwangsverschleppungen dieser Zeit.

Und natürlich sprach niemand über den Gulag. Selbst als mit Chruschtschow Mitte der 60er-Jahre viele Häftlinge heimkehrten, und sogar ein Gesetz zu ihrer Rehabilitierung verabschiedet wurde, blieb das Thematisieren erlebter Gewalt die Ausnahme.

Elena Zhemkova zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die über Jahrzehnte hinweg sich nicht mit den Traumatisierungen ihrer Bürger befasst hat oder sich nicht damit befassen durfte. Die offizielle Erinnerung an den Krieg zum Beispiel, so Zhemkova, sei nach offizieller Lesart sei nie die Erinnerung an Grausamkeit und Schrecken, sondern immer die Erinnerung an einen großen Sieg gewesen. Und das habe sich unter Putin nicht geändert.

Elena Zhemkova: "Das Leben in der Sowjetzeit wird nach wie vor stark idealisiert. Es gibt eine Menge Filme über die 70er und 80er-Jahre, wie wunderbar sie war, diese Zeit. Dass man sie mit nichts vergleichen kann. Putin sagt offiziell, dass der Zerfall der UdSSR die Geokatastrophe schlechthin ist!"

In der Zeit der Perestrojka, als Memorial sich gründete und Deutschland begann, russische Zwangsarbeiter zu entschädigen, habe es zum ersten Mal das Interesse gegeben, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit zu erforschen und die Wahrheit der Forschung in Beziehung zu setzen zu dem, was in den Familien erzählt und erinnert wurde. Viele Erinnerungen seien jedoch verschüttet, bedauert die Geschäftsführerin von Memorial.

Um so wichtiger sei es, die Arbeit fortzusetzen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Auch nicht, wenn das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, dass ihre Arbeit als Agententätigkeit einstufen könnte.
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