Die ungesunde Gesundesserei

Von Udo Pollmer · 15.06.2013
Niemand kriegt Darmprobleme, wenn er sich Linsen mit Würstchen gönnt, meint Udo Pollmer. Erst dadurch, dass viele Menschen "bewusst" essen, züchten sie sich einen Reizdarm heran.
Eine Umfrage der British Nutrition Foundation gibt zu denken: Englische Schulkinder haben doch glatt behauptet, Käse würde aus Pflanzen gemacht. Die deutschen Experten reagierten aufgeregt und forderten mehr Aufklärung. Dabei tut Kindermund doch manchmal Wahrheit kund. In England wird gern Analogkäse verwendet. Die Masse enthält neben Wasser vor allem Pflanzliches wie Sojaöl. Solche Produkte gab es auch bei uns, doch unsere Aufklärer haben jahrelang geglaubt, jeder Käse sei aus Milch. Vielleicht sollten sie das nächste Mal ein paar Grundschüler zu Rate ziehen.

Zumindest eine der Antworten gibt tatsächlich Anlass zur Sorge: Es ist der Kinderglaube, man solle ganz viel Obst und Gemüse vertilgen. Die Fünf-am-Tag-Kampagne ist leider schon bei den Jüngsten angekommen. Den Grund für die Besorgnis liefern die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. In Deutschland nahmen Magen-Darm-Krankheiten parallel zur Kampagne massiv zu.

Gastroenterologen haben mir versichert, dass es nach dem Beginn von Fünf am Tag kaum vier Wochen dauerte – und ihre Praxen füllten sich. Viele ihrer Kollegen nahmen den Geldsegen dankbar an und hielten fein stille, wenn wieder einmal zu einer Extraportion Obst und Gemüse aufgerufen wurde.

Jetzt fand die Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention, die ähnliches beobachtet hatte, endlich den Mut, die Öffentlichkeit vor diesem Unfug zu warnen: "Besonders der Rat einer erhöhten Ballaststoffzufuhr", erklärte sie, sei für die besorgniserregende Entwicklung verantwortlich. Der Zusammenhang ist recht einfach: Der Dickdarm ist beim Menschen sehr kurz geraten – viel kürzer als bei den Menschenaffen. Das bisschen Darm reicht nicht für eine effektive Verdauung der Ballaststoffe. Deshalb entfernt der Mensch die Schalen und kocht sein Gemüse, bevor er es isst.

Die massive Zunahme der Darmprobleme rührt natürlich nicht daher, dass wir in der Pause eine Banane speisen, sondern daher, dass viele Menschen "bewusst" essen, also das, was als "gesund" propagiert wird, etwas, das sie aus freien Stücken nicht gespeist hätten. Niemand kriegt Darmprobleme, wenn er sich Linsen mit Würstchen gönnt, oder sich auch mal was Vegetarisches gönnt wie Pommes mit Ketchup oder ein Erdbeereis schleckt. Doch die Gläubigen essen es jetzt als Rohkost oder als Vollkorn. Dann kommt es zu Gärungen im Darm – ein Festmahl für Pilze und andere ungebetene Gäste. So entsteht der Reizdarm.

Die Fachgesellschaft für Ernährungstherapie und Prävention nennt noch einem zweiten Grund für die Verdauungsprobleme: Schuld sei auch, bitte festhalten, "die Empfehlung, mit Zucker zu sparen". Dazu gehöre speziell die Unart statt bekömmlicher Limos, bewusst Getränke mit kalorienarmen Süßungsmitteln zu trinken. Diese Beobachtung aus der Beratungspraxis wird inzwischen auch in der internationalen Fachpresse diskutiert: Zuckerersatz als Ursache von Darmentzündungen.

Die Folge dieser Gesundesserei sind nicht nur Reizdärme sondern auch Unverträglichkeiten, speziell von Lactose oder Fructose. Deshalb rät die Fachgesellschaft bei Verdauungsstörungen statt auf teure Diagnostik zu setzen, lieber für einige Zeit auf die "gesunde Ernährung" zu verzichten und das zu essen, was die Patienten mögen und was ihnen bekommt. Das bringt vielfach Heilung.

Die Patienten "rechtfertigen sich oft damit", ergänzt die Fachgesellschaft, "dass sie sich doch gesund ernähren würden. Immer häufiger fällt dabei der scheinbar verschämte Nachsatz, dass die Symptome immer dann abklingen, wenn das Konsumierte gemeinhin als ungesund gilt." So wörtlich. Aus diesen Zeilen spricht eine jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Patienten, mit Ernährungstipps und ihren üblen Folgen. Mit wenigen Sätzen aus berufenem Munde wird das ganze bigotte Geschwätz der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und ihrer medialen Papageienchöre versenkt. Es wird Zeit, wenigstens die Kinder vor der riskanten Fünf-am-Tag-Kampagne zu schützen. Mahlzeit!


Literatur:
- Reiss M: Wenn ernährungspolitische Maßnahmen eher schaden als nutzen. F.E.T. e.V. Aachen, Pressemeldung vom 4.6. 2013
- Knop U: Ernährung: Obst und Gemüse als Krankmacher? Pressemitteilung vom 23.05.2013:
- Knop U: Ernährungsregeln: Wo bleiben die Daten? Novo-Argumente 3.04.2013
- Ledochowski M: Fructose- and sorbitol-reduced diet improves mood and gastrointestinal disturbances in fructose malabsorbers. Scandinavian Journal of Gastroenterology 2000; 35: 1048-1052
- Qin X: Etiology of inflammatory bowel disease: a unified hypothesis. World Journal of Gastroenterology 2012; 18: 1708-1722