Die Tragödie eines Landes

11.06.2012
Was verbindet den vom Internationalen Strafgerichtshof verurteilten Milizenführer Lubanga mit dem Afrika-Forscher Livingstone oder dem deutschen Sölder, der sich "Kongo-Müller" nannte? Alle haben sie mit zweitgrößten Land Afrikas, dem Kongo, zu tun. David Van Reybrouck beleuchtet diese Verbindung.
Es ist nur wenige Monate her, da verurteilte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag den kongolesischen Milizführer Thomas Lubanga wegen des Einsatzes von Kindersoldaten. Er ist einer von vielen Figuren, die man schnell mit dem Kongo in Zusammenhang bringt - wie zum Beispiel auch den britischen Abenteurer Henry Morton Stanley und den Afrikaforscher Doktor Livingston, den deutschen Söldner "Kongo-Müller", den Leopardenfellmützchen tragenden Staatschef Mobutu oder Patrice Lumumba, in den 1960er-Jahren ein Symbol des Kampfes gegen den Kolonialismus. Wer aber kennt Zusammenhänge zwischen ihnen, weiß Genaues über die Geschichte des Kongo, jenes Landes, das mit einer Fläche von 2,3 Millionen Quadratkilometern das zweitgrößte in Afrika ist, so groß wie Westeuropa?

Mit Sicherheit der 1971 im belgischen Brügge geborene Journalist, Dichter und Archäologe David Van Reybrouck. Sein vor zwei Jahren erschienenes, knapp achthundert Seiten umfassendes Buch "Kongo. Eine Geschichte" liegt nun auf Deutsch vor. Sieben Jahre hat der Autor an seinem Werk gearbeitet, zehn Mal ist er in den Kongo gereist. Entstanden ist ein historisches Sachbuch von hoher literarischer Qualität. Wenn man überhaupt Vergleiche ziehen möchte, dann mit Geert Maks "In Europa" oder den Reportagen und Reiseberichten eines Richard Swartz und Ryszard Kapuscinski. Die Geschichte des Kongo beginnt in diesem Buch in Europa. Und endet - im Zuge der Globalisierung - in China.

Neben eigener Recherche basiert es auf einem immensen Quellenstudium des Autors. Van Reybrouck ist profund im Umgang mit Fakten, originell in der Betrachtung, sinnlich und mitreißend in der Darstellung. Er beginnt mit einer Art Diashow zur Vorgeschichte des afrikanischen Kontinents, um sich dann in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zoomen, in der Zentralafrika verstärkt ins Visier arabischer Sklavenhändler und europäischer Kolonisten gerät. Es gelingt dem Autor, einen Zeitzeugen zu interviewen, der unglaubliche 126 Jahre alt und bei Verstand ist.

Überhaupt ist das eine Stärke des Buches: Van Reybrouck lässt Afrikaner
zu Wort kommen, ohne seine eigenen Erfahrungen auszublenden. Einerseits umgeht er so die Gefahr, mit eurozentrischem Blick über den Kongo zu schreiben, zum anderen werden seine Gesprächspartner selbst auch zu Erzählern, kontrapunktieren und variieren rein informative Passagen, führen den Leser multiperspektivisch und dicht am geschilderten Geschehen entlang. Ein Rebellenführer berichtet ebenso wie ein Zuschauer des legendären Boxkampfes zwischen Muhammad Ali und George Foreman in Kinshasa, ein Leibwächter des Putschisten Kabila, ein kongolesischer Geschäftsmann in China - zahlreiche Personen kommen so zu Wort. Sie bilden letztlich den Chor, der die Tragödie eines Landes besingt, das, immens reich an Rohstoffen, die höchste Kindersterblichkeit weltweit aufweist und das unter Kriegen und Katastrophen mehr als genug erlitten hat.

David van Reybrouck hütet sich vor banalen Schuldzuweisungen. Geltungssucht und Raffgier des belgischen Königs Leopold, der das Land 1885 quasi zu seinem Privatbesitz machte, werden ebenso plastisch veranschaulicht wie Machtbesessenheit, Grausamkeit und Inkompetenz einheimischer Diktatoren.
Ein historisches Standardwerk aus dem Geiste des Journalismus, detailliert und erschütternd.

Besprochen von Carsten Hueck

David Van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte
übersetzt von Waltraud Hüsmert
Suhrkamp, Berlin, 2012
783 Seiten, 29,95 Euro

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