Die Toten von Paris

Von Ruth Jung · 17.10.2011
Die Ereignisse vom 17. Oktober 1961 sind als Massaker von Paris in die Geschichte eingegangen. An jenem Tag kamen bei einem brutalen Polizeieinsatz während einer friedlichen Demonstration gegen den Algerienkrieg Hunderte Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt.
"Schon bald nach den Ereignissen vom 17. Oktober 1961 bemühten sich Historiker und engagierte Bürger um Aufklärung, sie wollten in Erfahrung bringen, was geschehen war und darüber informieren. Aber maßgebliche Vertreter des französischen Staates unternahmen alle Anstrengungen, um die Wahrheit zu ersticken."

Jean-Luc Einaudi ist Historiker und Autor des Buches "La Bataille de Paris", "Die Schlacht von Paris". Sein schockierender Bericht über die blutige Niederschlagung einer Demonstration von Algeriern, die als "Massaker von Paris" in die Geschichte einging, erschien 1991. Erst dreißig Jahre nach dem Geschehen erfuhr die Öffentlichkeit detailliert, was an jenem regnerischen Oktoberabend 1961 mitten in Paris geschehen war. Seit 1954 tobte in Algerien der Krieg um die Unabhängigkeit. Das nordafrikanische Land wollte sich aus der Kolonialherrschaft befreien, in die es nach der Besetzung durch französische Truppen 1830 geraten war. Der Krieg mit Algerien beherrschte inzwischen auch die Metropole Frankreichs, auf beiden Seiten gab es Opfer. Die Stimmung war aufgeheizt, Repressionen und Rassismus waren alltäglich.

"Im Rahmen der zu ergreifenden Maßnahmen, die darauf zielen, den algerischen Terrorismus einzudämmen und Angehörige des Polizeiapparats zu schützen, verhänge ich über alle muslimischen Franzosen algerischer Herkunft eine Ausgangssperre von 20 Uhr abends bis 5 Uhr 30 morgens",

heißt es in der Verfügung des Pariser Polizeipräfekten Maurice Papon vom 5. Oktober 1961. Daraufhin rief die französische Sektion der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN alle im Großraum Paris lebenden Algerier zu einer friedlichen Kundgebung für den 17. Oktober auf. Etwa 30.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, strömten am Abend in die Stadt, um gegen die Ausgangssperre und für die Unabhängigkeit ihres Landes zu demonstrieren. Die Demonstranten hofften auf die Sympathie der Bevölkerung und die Wiederaufnahme der abgebrochenen Verhandlungen über die Unabhängigkeit.

Der FLN hatte strikte Order für eine gewaltlose Demonstration gegeben, niemand rechnete mit einer gewalttätigen Reaktion. Bis Maurice Papon den Schießbefehl gab. Etwa 200 Menschen, so die Schätzung der Historiker, wurden erschossen, erschlagen, in der Seine ertränkt, Tausende wurden verletzt. Georges Azenstarck war als Pressefotograf der Zeitung "L'Humanité" Augenzeuge am Boulevard Bonne Nouvelle.

"Aber die Presse brachte nichts darüber, die Leute wussten nichts von dem Massaker. Auch die Zeitung 'L'Humanité' berichtete nichts über die zwölf Toten, die ich gesehen und fotografiert habe, hätte sie es getan, wäre sie beschlagnahmt worden. (...) Sie sprachen nur ganz allgemein von Polizeirepressionen, aber Polizeirepressionen waren damals alltäglich, und Demonstrationen gegen den Algerienkrieg gab es viele in jenen Jahren."

Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Tote es wirklich gab. Etwa 14.000 Menschen wurden verhaftet, viele tagelang festgehalten und misshandelt, Hunderte nach Algerien deportiert. Jean-Luc Einaudi:

"Die offizielle Version der Vorgänge lautete, es habe drei Tote gegeben. Polizeikräfte hätten in Notwehr auf Demonstranten geschossen. Als aber Tage später immer mehr Leichen gefunden wurden, in der Seine, auf Booten und in den Wäldern rings um Paris, kam eine neue Version auf. Nun hieß es, diese Toten seien Opfer von Abrechnungen rivalisierender algerischer Banden."

Diese Version ließ Polizeipräfekt Papon verbreiten. Maurice Papon war ein ehemaliger Vichy-Politiker. Nach dem Krieg wurde er von General de Gaulle in Algerien als Präfekt eingesetzt. Erst 1998 wurde Papon, der als Kollaborateur verantwortlich für die Deportation der jüdischen Bevölkerung von Bordeaux war, angeklagt und zu zehn Jahren Haft verurteilt.

"Zum Gedenken an die zahlreichen Algerier, die während der blutigen Verfolgung einer friedlichen Demonstration am 17. Oktober 1961 getötet worden sind."

So lautet die Inschrift einer Gedenktafel am Pont Saint-Michel, die am 17. Oktober 2001 auf Betreiben einer Bürgerinitiative vom Pariser Bürgermeister eingeweiht wurde. Vertreter der Regierung waren nicht zugegen.