Deutscher Rekord

86 Tage ohne neue Regierung

Angela Merkel (CDU) geht vor Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, am 07.11.2017 im Bundestag in Berlin zu einer weiteren Verhandlungsrunde der Sondierungsgespräche zur Bildung einer Regierung aus CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
Angela Merkel (CDU) auf dem Weg zu Sondierungsgesprächen © dpa / picture-alliance / Michael Kappeler
Von Uwe Bork · 19.12.2017
So lange haben wir es nach einer Bundestagswahl noch nie ohne eine neu gebildete Regierung ausgehalten: Am 19. Dezember sind es 86 Tage. Ob es uns wohl noch gelingen wird, die Belgier zu toppen? Die blieben 541 Tage ohne neue Regierung.
Erich Mende: Der Name sagt Ihnen noch 'was? Falls nicht, hier eine kleine Nachhilfeminute: Unter seiner Führung ging die FDP 1961 mit dem Versprechen in die Bundestagswahl, nie und nimmer einen Bundeskanzler Konrad Adenauer mit zu wählen. Tat sie dann aber doch, was ihr leider für ziemlich lange den Ruf einbrachte, eine postengeile 'Umfallerpartei' zu sein.
Christian Lindner ist kein Erich Mende, obwohl auch der damals landauf, landab als schöner Mann bekannt war. Mehr als der 'schöne Erich' ist der 'schöne Christian' ein Mann von Prinzipien, er fällt nicht um, und folglich regiert er lieber gar nicht als falsch.
Wie es im Moment aussieht, hat er das mit ziemlich vielen in der SPD gemeinsam. Auch in der Partei, die immerhin zwanzig Jahre lang darauf warten musste, einmal einen Kanzler zu stellen, ist die Unlust an der Macht deutlich spürbar. Augenscheinlich haben vier Jahre Engtanz mit Angela Merkel sie so geschlaucht, dass sie aus der Internationalen, immerhin dem Kampflied der Arbeiterklasse, nur noch eine einzige Zeile im Kopf haben: "Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger!"

Wahlergebnisse passen nicht zu Regierungswillen

Regierungsverantwortung zu übernehmen, das scheint in einem der reichsten und einflussreichsten Staaten dieser Welt mittlerweile so begehrt zu sein wie eine Kampfkandidatur gegen Kim Yong-Un. Selbst die AfD, normalerweise stets dabei, wenn es gilt, Volk und Vaterland vor dem Verfall zu retten, stellt jetzt Bedingungen, wenn es darum geht, den Regierungskarren aus dem Dreck zu ziehen, in dem er nach Meinung der Mehrheit der Bundesbürger gar nicht steckt: "Ich wünsche mir, dass die anderen bei uns um Koalitionsgespräche betteln", war gerade erst Doris von Sayn-Wittgenstein zu hören, neue Blume im von Parteitag zu Parteitag immer brauner werdenden Bouquet der populären Populisten. Nur die Roten – also, die richtig Roten – und die Grünen, die würden schon gern regieren, aber entweder es fragt sie keiner, ihre Prozente reichen einfach nicht, oder gleich beides.

Regierungsauftrag als heiße Kartoffel

86 Tage ohne neue Regierung: Was ist bloß passiert in unserem Land, dass sogar schon der Bundespräsident die Spitzen der Parteien daran erinnern muss, sie seien zur Wahl angetreten, um Politik zu betreiben und sie nicht nur zu bemäkeln?
Schauen wir uns doch nur einmal um. Der Befund ist überdeutlich: In unseren einst so vorbildlichen Städten und Dörfern herrscht mittlerweile die schiere Anarchie. Notleidende Schönheitschirurgen sehen sich gezwungen, ihre bescheidenen Millionen auf tropische Eilande zu transferieren, um sie vor dem revolutionären Mob randalierender Kassenpatienten zu retten, und Deutschlands Süden steuert gar auf einen Volksentscheid zu, um als wirklicher Freistaat gemeinsam mit Katalonien, Korsika und der Republik Venedig ein 'Europa der Vaterländer' zu bilden. Es sollte sich also niemand wundern, wenn in diesen dunklen Zeiten der Regierungsauftrag mehr und mehr einer heißen Kartoffel ähnelt, die die üblichen Verdächtigen der üblichen Parteien schnell weiterreichen, um sich an ihr nur nicht die Finger zu verbrennen.

Belgien: 541 Tage ohne neue Regierung

Auswege aus der Krise? Gibt's die? Gibt's überhaupt eine Krise? Die Belgier haben zu Beginn dieses Jahrzehnts schließlich sogar 541 Tage ohne Bildung einer neuen Regierung überstanden, doch das sind einsame Brüsseler Spitzen, nicht direkt zur Nachahmung empfohlen.
Für Deutschland könnte sich anderes anbieten. Statt etwa durch immer weitere Sondierungen den Boden für ein kommendes Kabinett so weit zu durchlöchern, bis er als solider Baugrund nicht mehr taugt, könnte man es in Berlin doch einmal mit Teambildung versuchen statt mit Abwinken und öffentlichen Demontagen. Jeder Bundesligatrainer wäre sicher gern mit einschlägigen Tipps behilflich. Es muss ja nicht unbedingt der von Bayern München sein …

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bork arbeitete als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten.

Seit 1998 leitet er die Stuttgarter Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft‘ des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.

Uwe Bork, geboren 1951, ist seit 1998 Leiter der Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.Außer seinen Filmen hat Uwe Bork auch mehrere Bücher veröffentlicht. In ihnen setzt er sich humorvoll-ironisch mit dem Alltag in deutschen Familien auseinander ("Väter, Söhne und andere Irre"; "Endlich Platz im Nest: Wenn Eltern flügge werden") oder räumt ebenso sachlich wie locker mit Urteilen und Vorurteilen über Religion auf ("Wer soll das alles glauben? Und andere schlaue Fragen an die Bibel"; "Die Christen: Expedition zu einem unbekannten Volk").
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