Die Toten auf dem Golm

Von Antje Krüger und Matthias Zuber · 25.04.2005
Am 12. März 1945 heulten in Swinemünde die Sirenen. Nach einer halben Stunde stand nichts mehr. Die Stadt, ein "Dresden des Nordens". Der örtliche Friedhof war zu klein für die Leichenberge. Der Golm, einst beliebtes Ausflugsziel, wurde Ruhestätte für mehr als 23.000 Tote. Heute trennt die deutsch-polnische Grenze den Friedhof von der Stadt.
Der Golm ist ein Platz an dem sowohl die Wunden der Vergangenheit noch schmerzvoll offen liegen, an dem noch alte Konflikte schwelen, an dem aber auch Versöhnung möglich scheint. Der Beitrag lässt Menschen, die noch heute mit dem Golm eng verbunden sind, von dieser schrecklichen Nacht und der Geschichte des Golm erzählen. Außerdem untersucht der Beitrag wie die Menschen in Swinoujscie, wie Swinemünde heute heißt, mit der Geschichte ihres Ortes umgehen.

Schmal blinkt sie als weiße Linie unten auf der Wiese. Die Grenze. Sie verläuft mitten in einem Wassergraben zwischen Deutschland und Polen. Es ist früh am Morgen. Nebel steigt aus dem taufrischen Gras. Graue Landschaft. Der Winter hält noch fest. Verbissen. Es ist kühl und windig auf dem Hügel. Durch die Äste schimmert eine Stadt; - kahle Plattenbauten, Kräne, Schrebergärten - Swinoujscie - das ehemalige Swinemünde. Dahinter das Meer, erkennbar nur als hellgraues Band vor dem weißen Himmel. Hier oben ist es ruhig. - Alte knorrige Bäume. Ein Weg führt vorbei, hinunter zu einer Lichtung.

Kreuze. Einzelne Kreuze. Kleine Gruppen von Kreuzen. Sie stehen am sanften Hang wie einsame, traurige, steinerne Zwerge. Weiter unten dunkele Tafeln. Mit Namen. Namen von Toten. Doch die meisten, die hier liegen, sind nicht bekannt. Deshalb klaffen Lücken im Buchstabenteppich wie schmerzhafte Wunden. 23.000 Tote liegen hier unter dem Rasen. Soldaten, Alte, Frauen - Kinder. Sie alle starben beim Luftangriff der Alliierten auf Swinemünde am 12. März 1945. - Sechs Wochen vor Kriegsende.

An diesem Morgen wird die Ruhe auf dem Hügel, dem Golm, unterbrochen. Ältere Menschen - einzeln - andere als Paare - oder in Gruppen - kommen den Fußweg hoch von dem kleinen Ort Kamminke auf der Insel Usedom. Es werden immer mehr.

Inzwischen sind auch einige jüngere Leute hier oben auf dem Golm, dem nordöstlichsten Stück Deutschlands. Sie alle möchten an diesem Tag der Toten des Bombenabwurfs über Swinemünde gedenken. Viele der Anwesenden haben die Bombardierung noch selbst erlebt. Als Kinder oder junge Erwachsene.

Ein polnischer Priester mit einer Gruppe junger Leute aus Swinoujscie zieht betend den Hügel herauf.

Irmgard Fleischer: "Ich muss sagen, ich finde das grausam. Wir sind in Pommern ja immer alle evangelisch gewesen. Und das hier ist uns total fremd. Und ich kriege Horror, wenn ich das schon höre [im Hintergrund sagt eine Frau: Ja, ja!]. Weil das gehört nicht zu uns. Die Polen waren nie hier, sind auch nie hier gewesen. Auch in früheren Zeiten nicht. [...] Ich verstehe nicht, was die hier wollen. Aber das ist doch keine Anteilnahme. Das ist doch keine Anteilnahme. Was wollen die hier? Also das ist meine Meinung. Und so denken viele."

Die Wunden der Vergangenheit liegen hier noch immer offen. Trauer über die verlorene, einstige Heimat wird bei einigen zu Bitterkeit und direkter Ablehnung. Dabei liegen hier unter dem Rasen nicht nur Deutsche, sondern auch Zwangsarbeiter aus anderen Ländern. Unter ihnen auch viele Polen.

Dr. Jozef Plucinski: "Kann sagen, das ist eine Bruderschaft des Todes. Ja?"

... sagt Dr. Jozef Plucinski. Der ältere Herr sitzt in seinem silbernen Seat Ibiza und fährt die holprige Pflasterstraße vom Grenzübergang Ahlbeck in Richtung Swinoujscie. Dr. Jozef Plucinski ist Historiker und war bis vor einem Jahr der Direktor des Fischereimuseums in Swinoujscie.

Zusammen mit anderen Polen bemüht er sich um Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen. So sammelte er mit seinen Mitstreitern deutsche Grabsteine und legte einen symbolischen deutschen Friedhof an mit einem Gedenkstein für die Opfer des Luftangriffes.

Jozef Plucinski: "Wir wollen über Swinemünde fahren und dann kann ich etwas erzählen, wie war mit diesem Luftangriff. Es war März. 12. März. Montag. 1945. Der Tag wegen Wetter war wie heute. Etwas dunkel. Ungefähr um Zwölf. Ganz genau wie jetzt. [...] 12 Uhr acht Minuten sind erste Bomben gefallen gegen Stadt Swinemünde."

Draußen - links und rechts - stehen hohe, mehrstöckige Mietshäuser. Irgendwann in den Fünfzigern oder Sechzigern wohl schnell hochgezogen. Seelenlos blicken sie auf die gerade Straße. Ihre glatten Fassadenplatten schimmern manchmal farbig unter der rußgedunkelten Oberfläche.

Jozef Plucinski: "Wir fahren jetzt über Straße. Die hieß vor dem Krieg Hindenburgstraße. Jetzt das heißt Grunwaldska Straße. Und das war typisches Wohngebiet. - Ja und ehrlich gesagt, sind nur ein paar Häuser geblieben."

Zwischen den hohen Mietskasernen stehen wie Zahnlücken ein, zwei niedrigere Häuser, die wahrscheinlich noch aus der Kaiserzeit stammen.

Jozef Plucinski: "Und jetzt fahren wir zum Stadtzentrum und wir wollen zum Swine Fluss."

Der silberne Seat Ibiza fährt am Marktplatz vorbei, dem Rathaus. Zweckbetonbauten markieren die Flächen der ehemaligen Zerstörung. - Und - es gibt viel Beton in Swinoujscie.

Damals, als die Bomben fielen, befanden sich etwa 70.000 Flüchtlinge in der Stadt, in der normalerweise 25.000 Einwohner lebten. Die Streitkräfte Stalins waren bis auf wenige Kilometer auf Swinemünde vorgerückt als die Amerikanische 8. Luftflotte aus 6.000 Meter Höhe die Bombardierung begann. Etwa 23.000 Menschen starben.

Der silberne Seat Ibiza von Jozef Plucinski fährt am Fischereimuseum vorbei, dem ältesten Haus von Swinoujscie, und erreicht den Fluss.

Jozef Plucinski: "Und woher war so große Opferzahl? Die Flüchtlinge hatten keine Möglichkeit, in einen Luftschutzbunker Rettung zu suchen. Deswegen. In Swinemünde gab es fast keine solche Anlagen. Es ist hier; Swinemünder Boden passt nicht für diese Zwecke. Überall Wasser. Und deswegen die Flüchtlinge hatten nur eine Möglichkeit. Zum Beispiel in einem Park Rettung zu suchen. Aber auch die amerikanischen Piloten von humanitären Zweck. Sie warfen ihre Bomben in den Park. Sie erreichten nicht ihre Militärziele und deswegen sie warfen aus einem humanitären Zweck ihre Bomben in den Park. Der Swinemünder Park nach dem Luftangriff sah schrecklich."

Der silberne Seat Ibiza rollt am Park vorbei. Hohe Bäume. Ein runder Turm. Dicke Mauern. Ein Teil der ehemaligen Befestigungsanlage. Gut erhalten.

Jozef Plucinski: "Es ist eine Schriftstellerin, Carola Stern, Swinemünderin. Sie wohnt jetzt in Berlin. Sie macht eine tragische Beschreibung, was hat sie gesehen in dem Park als 18-jähriges Mädchen."

Carola Stern sitzt in ihrer Berliner Wohnung im Stadtteil Friedenau. Vor ihr ein niedriger Tisch, auf dem einige Folianten über das dritte Reich liegen. Sie hat gerade eine Buch über Marianne Hoppe und Gustaf Gründgens fertig geschrieben. Seit der Bombardierung Swinemündes hatte Carola Stern, oder Erika Assmus, wie sie damals noch hieß, ein bewegtes Leben. Sie spionierte für die CIA in der DDR, flüchtete in den Westen, arbeitete in einem Verlag, später dann als politische Journalistin beim WDR. Sie gründete mit die deutsche Sektion von amnesty international und verfasste mehrere Bücher. Darunter auch zwei Autobiografien: In "In den Netzen der Erinnerung" beschreibt sie ihre Zeit als Nazimädchen in Ahlbeck, der Nachbarstadt Swinemündes. Und in "Doppelleben" erzählt sie von ihrer Spinonagevergangenheit und ihrer Zeit in der Bundesrepublik.

Prof. Carola Stern: "Am Morgen des 12. März 1945 kam meine Tante aus dem Nachbarhaus zu uns und bat mich, gleich mal nach Swinemünde mit dem Rad zu fahre. Es müsse dort ein Formular entweder abgegeben oder geholt werden. Auf dem Landratsamt."

Carola Stern, beziehungsweise Erika Assmus, macht sich auf den Weg.

Carola Stern: "Und als ich dann in die Färberstraße kam, sah ich unzählige Planwagen. Einige waren auch noch mit Teppichen bedeckt. Und Menschen. Frauen mit großen Stiefeln, Kopftüchern und kleine Kinder mit Rucksäcken oder Ranzen. Meistens Frauen mit Kindern. Aber auch alte Leute."

Als Erika Assmus in Swinemünde ankommt, schlagen die Glocken gerade Zwölf Uhr.

Carola Stern: "Ich kann mich noch genau erinnern. Ich stand auf dem Marktplatz vor der Post und hatte mein Rad abgestellt in einem Hinterhof. Und plötzlich hörte ich die Sirenen [...] Und dann krachten die ersten Bomben. Und ich kann mich noch erinnern - zwei Soldaten warfen mich runter auf die Erde und wir robbten zusammen in einen Hinterhof. Und eine kleine Tür wurde uns geöffnet. Da war eine Waschküche zu ebener Erde und da waren wir herein gezogen und da habe ich dann die nächsten eineinhalb Stunden erlebt. Der Kalk fiel von den Wänden. Dann fing das Haus an zu wackeln und das Licht ging aus."

Dunkelheit. - Nachdem eine Zeit lang keine Bomben mehr fielen, wird Entwarnung gegeben. Erika Assmus tritt aus dem Haus.

Carola Stern: "Und vor unseren Augen standen keine schönen Häuser mehr und es gab auch eigentlich keine Straße mehr. Oder nur an einigen Stellen. Und die ganze Stadt lag in Trümmern. Ich bin irre lachend durch diese Trümmerwüste gegangen. Es kam mir vor, als hätte ich meinen Verstand verloren. [...] Und dann müssen Sie sich vorstellen: Wo vorher die ganzen Planwagen gestanden hatten - die waren alle umgeworfen und mitten in dem Schutt lagen die toten Menschen. Und Frauen liefen schreiend umher und suchten nach ihren Kindern. Am schlimmsten sah es aus im Hafen und im Kurpark."

Überall Rauch. - Chaos. - Erika Assmus möchte raus aus der Stadt. - Weg.

Carola Stern: "Zu meinem großen Erstaunen ist mein Fahrrad heil geblieben. Und mit diesem Fahrrad bin ich dann durch die Stadt gezogen."

Ihr Weg führt sie vorbei am Park.

Carola Stern: "Es gab Bomebentrichter und in den Bombentrichtern oder um die Bombentrichter herum lagen Gliedmaßen, Köpfe, auch ganze tote Soldaten. Also Soldaten, die noch ihre Gliedmaßen behalten hatten. Ihre Köpfe. Und wer am Leben geblieben war - man sprach dann später von 23.000 Toten - der versuchte sich so schnell wie möglich aus diesem Trümmerhaufen zu befreien."

Auch Hannelore Jungnickel war an diesem Tag in Swinemünde. Heute sitzt sie zwischen liebevoll arrangierten Nippes mit ihrem Mann in einem kleinen Haus an der Hauptstraße in Kamminke, von wo aus es auch zum Golm geht. Am zwölften März 1945 war sie mit ihrer Tante bei ihren Großeltern in der Wohnung. Sie hatten es nicht mehr rechtzeitig in den nächsten Luftschutzkeller geschafft. Das Haus bekam mehrere Treffer ab.

Hannelore Jungnickel: "Nun können Sie sich ja vorstellen, was von unserem Haus - wie das da ausgesehen hat und, und ... Im Flur, kann ich mich entsinnen, war noch eine Familie reingeflüchtet. Und der Mann, der lag im Flur nachher und war hier der ganze Bauch aufgerissen. Mein Großvater war auch schwer verwundet. Und meine Tante auch. Bloß meine Großmutter und ich sind so glimpflich davon gekommen. [...] Wie alles vorbei war, kamen Sanka vorbeigefahren und dann wurden die Toten - und der Mann im Flur, der da tot im Flur lag, mein Opa lebte ja noch. Das wurde alles in diesen Sanka rein geschmissen und dann war der voll. Voll von Leuten. Was da unten gelegen hat, das, ich nehme an, das ist von den anderen dann noch erdrückt worden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die .... Und dann war von der Fleischerei Stapelow gerade rüber die Oma, da lag der Oberkörper bei uns unterm Fenster. Der wurde da auch mit reingelegt und alles. Wie gesagt, die Bilder habe ich heute noch vor Augen, nicht. Das vergisst man nicht."

Das Geschehen von damals hat Hannelore Jungnickel nicht mehr los gelassen. So betreut die heute Siebzigjährige das Besucherbuch des Golm und hilft Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg verloren haben, diese eventuell unter den Toten des Golm zu finden. Sie wälzt mit ihnen die Unterlagen, die aus jenen Tagen stammen.

Und nicht selten wird sie fündig, wie bei dem Achtzigjährigen Mann aus Templin, der die letzte Ruhestätte seines Vaters suchte.

Hannelore Jungnickel: "[...] Da habe ich die Liste rausgeholt. Ja sage ich, das ist ihr Vater. Der Mann hat dagesessen, ich dachte, der bleibt weg. Der war so etwas von erstarrt richtig. Er konnte es nicht fassen, dass das doch sein Vater war."

Inzwischen sind etwa 1.000 Menchen auf dem Golm zur Gedenkfeier des 60. Jahrestages des Bombenabwurfes über Swinemünde. Etwas abseits unter dem Vordach des Besucherpavillons steht Eberhard Braun mit seiner Frau. Der großgewachsene Mann trägt eine dunkelblaue Baseballmütze, Vollbart und eine Sonnenbrille. Seit ein paar Jahren kommt er regelmäßig zum Jahrestag der Bombardierung auf den Golm.

Damals - 1945 - war er neun Jahre alt. Er kam mit seiner Mutter aus Wollin, war auf der Flucht wie tausend andere auch. Als die erste Fliegerwarnung ertönt, zieht ihn seine Mutter in einen der wenigen Bunker.

Eberhard Braun: "[...] Dann gab es eine Entwarnung. Dann sind wir wieder raus aus dem Bunker. Und als wir dann aus dem Bunker heraus waren, dann kam aber sehr schnell und sehr plötzlich dieser Bombenhagel über uns, so dass wir dann nur noch in eine - tja - Schutz gesucht haben - wie hier - unter einem Vordach. Von der Straße weg und haben diese 45 Minuten dann unter diesem Vordach gewissermaßen überlebt. Hatten den Blick wie hier in die Parklandschaft. Ja und da waren immer wieder Momente, wo man gesagt hat; jetzt ist es aus. Wenn man merkte durch dieses Geräusch der Bomben, die kommt sehr nah. Ah, das ist weit weg. Du hast wieder ein paar Minuten oder Sekunden deines Lebens dazu gewonnen. So ist das gelaufen und als dann das Gewitter vorbei war, war der Tag verändert. Es war dunkel. Es war finster. Es war ein Abend [...]."

Ein älterer Herr mit weißen Haaren und hellem Mantel steht vor einem Gedenkstein mit den Namen gefallener Soldaten. Sein Name meint er, könnte auch auf dem Stein stehen: Wilfried Sander. Denn er war damals in Swinemünde als 19-jähriger Kadett der Küstenartillerie. Die Bombardierung überlebte er zusammengekauert in einem Erdloch.

Wilfried Sander: "[...] Da war ja anfangs alles wie gelähmt bis dann die Kompanie wieder gesammelt wurde, zusammengestellt wurde. Wir sind dann wieder in die Kaserne zurückgegangen. Die Kaserne war relativ unbeschädigt, weil sie auch mehr vorne in Richtung Strandnähe hin liegt. Und dann stellte sich die Größe des Bombenangriffs nach und nach hinaus. Und am nächsten Tag mussten wir dann raus, Leichen aufsammeln. Und dabei ist es mir dann geschehen, dass ich auf eine Frauenleiche gestoßen bin, die gerade ein Kind geboren hatte, was unverletzt neben der Leiche lag."

"Im Osten muss die Festung Küstrin nach harten Abwehrkämpfen dem Gegener überlassen werden. Der Kampf um die Zugänge zur Danziger Bucht dauert unter verstärkten sowjetischen Kräfteeinsatz an. Neustadt, Purzig und Thierschau mussten geräumt werden. Kollberg liegt unter konzentrischem Ansturm der Sowjets. Gestern bei Tage schwere nordamerikanische Terrorangriffe auf Swinemünde."

... meldete am nächsten Tag das Radio. Und Swinemünde gab es nicht mehr. Die Friedhöfe der Stadt waren für die Tausenden von Toten zu klein und so karrte man die Leichen zum Golm, wo man sie in aller Eile verscharrte.

Aus dem Hügel vor der Stadt wurde ein Friedhof. Vor dem Krieg war der Golm ein beliebtes Ausflugsziel. Es gab ein Gartenrestaurant, einen Aussichtsturm und Schaukeln, um die Kinder tobten. Edmund Kracht, dessen Großvater das Bahnwärterhäuschen am Fuße des Golms bewohnte, war als Kind oft auf dem Hügel:

Edmund Kracht: "[...] Wir freuten uns, dass es auf dem Golm mal eine Waldmeisterbrause gab oder eine Rolle Drops [...] Und so kenne ich den Golm als eine Stätte des Frohsinns und der Fröhlichkeit."

Edmund Kracht steht in der Garzer Kirche, nur wenige Kilometer vom Golm entfernt, vor Schautafeln, die die Geschichte dieses Hügels erzählen. Die kleine Ausstellung hat er selbst konzipiert.

Denn auch ihn haben die Ereignisse von 1945 auf Usedom nicht mehr losgelassen. Im Sommer 1945 besuchte er mit seinem Vater und seiner Mutter den Golm - das erste Mal nach dem Krieg.

Edmund Kracht: "[...] Und dann gingen wir den Weg weiter runter in Richtung Kamminke und dort, wo jetzt die Massengräber sind, da war damals ein Strauchwerk, ein Gestrüpp, ein Unterholz. Und wir glaubten unseren Augen nicht zu trauen. Dort sahen wir Kinderschuhe und auch Fetzen von Bekleidung und irgendwo aus dem Erdreich ragte eine Hand hervor. Wir sagten, was ist denn hier geschehen und wir standen fassungslos und meine Mutter, die konnte sich vor Schmerz und Kummer gar nicht halten. [...] Und wir gingen dann ein Stückchen weiter und sahen dann zur rechten Hand Gräber, die man angelegt hatte, und erkannten auch Kreuze und auch Steine und auch Fetzen von Blech [...] Und ich kann mich daran erinnern, wo auf einem Stück Stein, ein Mauerstein, stand aufgeschrieben: ‚Hier ruht meine liebe Mutti und mein Bruder und ich muss wieder weiterziehen. Euere Gerta.‘ Wahrscheinlich die Handschrift eines Kindes."

Nach dem Krieg nahmen sich Menschen aus den umliegenden Dörfern der Gräber an. Die Menschen, die alle selbst Verwandte in dem Bombenhagel verloren hatten, entfernten das Gestrüpp und legten in mühsamer Arbeit den Friedhof an.

Die Regierung der DDR ließ dann später ein Betonrundell auf den Hügel stellen mit der Inschrifft:

"Dass nie wieder eine Mutter mehr ihren Sohn beweint."

Jedoch hat sich die DDR immer schwer getan mit diesem Hügel. Erinnerte er doch an eine ehemalige deutsche Stadt, die nun polnisch war. Man befürchtete revanchistische Demonstrationen auf dem Golm. So ließ man auch schon einmal ein Kreuz absägen.

Und auch die Bundesrepublik tat sich mit dem Platz nicht leicht. Neonaziaufmärsche zum Volkstrauertag, verbitterte Heimatvertrieben. Die Geschichte ist an diesem Ort auf eine manchmal beunruhigende Weise lebendig. Ein explosives Gemisch aus eigener Schuld, unverwundener Trauer, echter Anteilnahme und Ressentiments bricht sich hier des öfteren den Weg. Auch Carola Stern haderte lange mit einem eigenen Urteil über das Geschehen.

Carola Stern: "Ich hatte große Schwierigkeiten, mir eine Meinung zu machen über diesen Angriff. Ich hatte auch lange Zeit nicht den Mut, zu sagen, was das Unrecht war, weil ich mich erinnerte, wie wir in den Wochenschauen zu Beginn des Polenfeldzuges 1939 immer wieder gesehen hatten, wie - Stukas nannte man diese Sturzkampfflieger - wie die mit heulendem Geräusch sich drehten und runterstürzten auf die Stadt Warschau und ihre Bomben abwarfen. Und das war so fest in meinem Bild, so dass ich mir sagte, ja also, wir haben damit angefangen und die haben es fortgesetzt, haben uns mit unseren eigenen Mitteln zerstört. Insofern hatte ich es schwer gehabt, das einzuschätzen. Ich habe dann in einer Rede, die ich auf dem Golm gehalten habe, doch von Unrecht gesprochen. Ich denke, es hat keine wirklich militärischen Gründe gegeben diese Stadt, von der die Alliierten wissen mussten, dass sie ein Zufluchtsort für Tausende von Flüchtlingen war, sechs Wochen praktisch vor dem Ende des Krieges zu zerstören."

Carola Stern hat in letzter Zeit eine Menge Anfragen für Lesungen bekommen zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Mehr aber als das Kriegsende beschäftigt sie zurzeit das Thema, wie in Deutschland mit diesem Tag umgegangen wird. Ihr Eindruck ist, dass die Medien hauptsächlich zwei Themen in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung stellen:

Carola Stern: "Also einmal die letzten Tage der Großen der NS Elite: Hitler, Goebbels, Speer und so weiter. Und das Zweite: die Deutschen als Opfer. Man muss - wenn ich mir vorstelle, ich wäre 14 Jahre alt und würde mir jetzt diese Filme ansehen [...] dann würde ich den Eindruck haben, das sind alles völlig unschuldige Menschen, die mit nichts irgendetwas zu tun hatten. Und die sind kalt umgebracht worden. Dass unzählige dieser unschuldigen Menschen Hitler gewählt und gedient haben, davon ist nun überhaupt nicht mehr die Rede."

Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu:

Carola Stern: "Ich möchte gerne wissen, was aus mir geworden wäre mit meinen 19 Jahren, wenn Hitler an der Macht geblieben wäre. Vielleicht eine Journalistin, die KZs verteidigt und den Überfall auf halb Europa und ... Also für mich ist das ein Tag der Befreiung."