Die Suche nach der verlorenen Familie

Von Stefan Keim · 11.06.2012
Was hat Shakespeare mit Afghanistan zu viel? Nicht viel könnte man meinen. Dass dem doch so ist, zeigt die afghanische Theatergruppe Rah-e Sabs, die die "Komödie der Irrungen" des Dichters als sprühendes Volkstheater inszeniert.
Ein Vater kommt auf der Suche nach seinen verlorenen Söhnen in ein fremdes Land. Der Emir lässt ihn gefangen nehmen. Wenn der verzweifelte Mann sich nicht freikauft, wird er hingerichtet. Einen Tag bekommt er geschenkt, um seine Familie zu suchen. Shakespeares turbulenter "Komödie der Irrungen" liegt eine dramatische Geschichte zu Grunde. In der Aufführung der afghanischen Theatergruppe Rah-e Sabs bekommt die Anfangsszene besondere Dringlichkeit. Denn im seit Jahrzehnten von immer neuen Gewalttaten und Zerstörung erschütterten Land suchen viele Menschen nach verlorenen Angehörigen.

Eine Theaterszene gibt es nicht in Kabul, nur gelegentliche Aufführungen. Kein Schauspieler kann von Bühnenaktivitäten leben, fast alle arbeiten beim Fernsehen, manche auch als Drehbuchautoren und Kameraleute. Für Frauen ist es gefährlich, Theater zu spielen, mit dem Glauben radikaler Moslems lässt sich das nicht vereinbaren. Zumal die Gruppe Rah-e Sabs - übersetzt "Pfad der Hoffnung" - die Grenzen auslotet. Da rutscht manchmal ein Kopftuch, Berührungen zwischen Männern und Frauen sind tabu. Obwohl es in Kabul keine offizielle Zensur gibt. Ihr neues Stück "Comedy of Errors" hat die Gruppe allerdings nicht in Afghanistan erarbeitet. Ihr Proberaum im British Council wurde vor einem Jahr in einem brutalen Bombenanschlag zerstört. Drei Selbstmordattentäter stürmten morgens früh das Gebäude und töteten viele Menschen. Nur weil die Gruppe sich entschieden hatte, nicht wie in der Zeit des Ramadan üblich schon vor Sonnenaufgang zu arbeiten, haben die Theatermacher überlebt.

Nun haben sie sich in Indien getroffen und probiert, dort hat auch die Premiere der "Komödie der Irrungen" Premiere gehabt. Danach reiste die Aufführung ins Londoner Globe und hatte nun ihre erste und einzige Vorstellung in Deutschland beim Shakespeare-Festival in Neuss. Dort steht ebenfalls ein Nachbau eines Theaterbaus aus der Shakespeare-Zeit. Die Regisseurin Corinne Jaber arbeitet fast ohne Bühnenbild, nur einmal deutet ein Teppich ein Wohnhaus an. Die Tochter eines syrischen Vaters und einer französischen Mutter - in Deutschland ist sie aufgewachsen - arbeitet schon seit einigen Jahren mit den afghanischen Schauspielern und Musikern. Ein Trio mit Flöte, Trommel und Rebab, einem Saiteninstrument, sitzt an der Seite, unterfüttert fast die gesamte Aufführung mit schwungvollen, oft an Bollywood-Soundtracks erinnernden Klängen, greift manchmal auch in die Szene ein.

Die Darsteller sind umwerfende Komödianten. Sie präsentieren die Geschichte von Zwillingen, die die gleichen Namen tragen und nichts voneinander wissen - und ihren Dienern, die das gleiche Schicksal teilen - mit riesiger Energie, tänzerischem Slapstick und derben Clownsnummern. Das Publikum geht mit, beginnt immer wieder, mitten in den Szenen rhythmisch zu klatschen. Bis am Ende der Bogen zur Tragödie wieder geschlagen wird und der Spaß verzweifelte Untertöne bekommt. Einige Schauspieler spielen mehrere Rollen, gelegentlich wird direkt ins Publikum gesprochen, Shakespeare als sprühendes Volkstheater.

Dass die Neusser Aufführung noch am Wochenende auf der Kippe stand, ist überhaupt nicht mehr zu spüren. Eine Schauspielerin hat von der deutschen Botschaft kein Visum bekommen und musste zu Hause blieben. Und ein Darsteller, der in London wohnt, war plötzlich verschwunden. Die Regisseurin Corinne Jaber - in Frankreich eine berühmte Schauspielerin - sprang selbst ein, mit Charme und überwältigendem Spielwitz. Und dass einer der beiden Zwillinge die Rolle seines Bruders mitspielte, hätte sogar als Regieeinfall durchgehen können. Am Ende, wenn die beiden sich begegnen, übernimmt einer der Musiker seine Rolle.

Wie es mit Rah-e Sabz weiter geht, ist ungewiss. Weitere Aufführungen sind nicht geplant, die Reisekosten für ein zwölfköpfiges Ensemble sind hoch. Solche Projekte brauchen fast immer finanzielle Unterstützung internationaler Organisationen oder von Regierungen. Man spürt, wie befreit die Afghanen im Ausland agieren. Sie fassen sich an, ganz natürlich, Männer und Frauen spielen erotische Liebesszenen. Wenn sie die Inszenierung in Kabul zeigen, würden sie das ändern, um nicht zu schockieren. Das Theater hat eine Vorreiterfunktion für eine liberalere Gesellschaft. Das ist bei allem Spaß und Klamauk auch in der "Komödie der Irrungen" jederzeit spürbar.

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