"Die Strafgesellschaft" von Michel Foucault

Warum wir Menschen einsperren

Michel Foucault
Undatiertes Porträt des französischen Philosophen und Schriftstellers Michel Foucault. © picture alliance / dpa / Foto: afp
Von Michael Opitz · 09.07.2015
Bei Vergehen werden Menschen weggesperrt und sollen diszipliniert werden. Nach Michel Foucault spiegeln sich darin die Machtverhältnisse einer Gesellschaft wider. Der Philosoph hat dazu 1973 Vorlesungen gehalten, die jetzt unter dem Titel "Die Strafgesellschaft" erschienen sind.
In den ersten drei Monaten des Jahres 1973 hielt Michel Foucault am Collège de France dreizehn Vorlesungen zum Thema "Die Strafgesellschaft". Sie wurden auf Band mitgeschnitten, danach transkribiert und liegen nun als Buch vor. Dass sich Foucault bei diesem Thema auch mit dem Begriff "Einsperren" auseinandersetzen würde, war zu erwarten, denn das Wegsperren von Straffälligen in Gefängnisse gilt seit dem 18. Jahrhundert als eine neue Straftaktik. Überraschen dürfte hingegen, dass er auch über Phänomene wie den Landstreicher, die Zeit und die Angst referiert.
Es stellt sich Frage: Weshalb interessierte sich Foucault, der am Collège einen Lehrstuhl für die "Geschichte der Denksysteme" hatte und nicht Jura lehrte, gerade für das Gefängnis? Das Gefängnis ist seiner Meinung nach als Gesellschaftsform eine Form, "in der innerhalb der Gesellschaft Macht ausgeübt wird". Seiner Meinung nach spiegeln sich in den Straftaktiken einer Gesellschaft die Machtverhältnisse.
Bereits die zum Bau von Gefängnissen entwickelten Vorstellungen weisen darauf hin, dass es im Endeffekt um die Überwachung der gesamten Gesellschaft geht. Der Gefängnisbau muss gewährleisten, dass eine möglichst große Anzahl von Inhaftierten überwacht werden kann. Am besten gelingt dies, wenn man die "Theatersituation" umkehrt: nicht viele schauen auf das Zentrum, in dem wenige agieren, sondern es werden umgekehrt viele durch wenige überwacht. Warum die Vorlesungsreihe ursprünglich "Die Disziplinargesellschaft" heißen sollte, wird bei der Lektüre des Buches wird immer deutlicher.
Der Verbrecher als Feind der Gesellschaft
Das Verbrechen wird im 18. Jahrhundert nicht mehr nur als ein Vergehen angesehen, durch das einem anderen Schaden zugefügt wurde, sondern der Verbrecher wird als Feind der Gesellschaft angesehen, weil er ihr schadet. Am Landstreicher zeigt Foucault, dass dessen permanenter Ortswechsel aus ökonomischer Perspektive gesellschaftlichen Schaden verursacht. Folge des Ortswechsels ist eine Verknappung der Arbeitskräfte, dadurch steigen die Preise und es kommt schließlich zu einer noch größeren Armut. Im 18. Jahrhundert bilden sich Formen der Disziplinierung heraus, von denen das Gefängnis nur eine ist.
Diszipliniert werden soll vor allem der Arbeiter, der an einen Ort gebunden werden soll. Lässt er sich auf den Deal ein, dann wird ihm seine Arbeitskraft abgekauft und er bekommt Lohn für die Zeit, die er in der Fabrik arbeitet. Auffällig ist, dass sich zu dieser Zeit auch das Strafsystem ändert. Wer ins Gefängnis kommt, der wird bestraft, indem ihm ein Teil seiner Lebenszeit genommen wird. Die Variable Zeit wird sowohl im Arbeitsprozess als auch im Strafrecht disziplinierend gebraucht. Die Gesellschaft versucht an der Wende vom Ende des 18. Zum 19. Jahrhundert mit aller Macht, Tendenzen von "Illegalismus" zu verhindern, die – so die These im 18. Jahrhundert – besonders ausgeprägt war bei den Ärmsten der Armen.
Eine funktionierende Ökonomie basiert auf Disziplin. Wie die Ökonomie mit dem Strafrecht verbunden ist und welche Funktion dabei das Gefängnis hat, analysiert Foucault in seinen verwegenen Exkursen, denen zu folgen eine intellektuelle Herausforderung und Freude ist.

Michel Foucault: "Die Strafgesellschaft"
Vorlesung am Collège de France 1972-1973
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Hrsg. unter der Leitung von François Ewald und Alessandro Fontana von Bernard E. Harcourt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
443 Seiten, 44,00 Euro

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