"Die Sexualität ist eine enorme Macht"

Reinhard Haller im Gespräch mit Katrin Heise · 22.03.2010
Nicht einmal zehn Prozent der katholischen Priesteranwärter können ein zölibatäres Leben durchhalten, sagt der österreichische Neurologe Reinhard Haller. Wenn Sexualität unterdrückt werde, führe dies zu "Notlösungen", so der Gerichtsgutachter.
Katrin Heise: Papst Benedikt der XVI. hat sich in seinem Hirtenbrief bei den irischen Missbrauchsopfern entschuldigt. Er hat Scham und Reue und den Willen zur Aufklärung betont. Zur Sexuallehre der katholischen Kirche, zum Zölibat, hat er nichts gesagt in diesem Brief. Die überwältigende Mehrheit der Bundesbürger hat sich für eine Abschaffung des Zölibats in der katholischen Kirche ausgesprochen. Dem Deutschlandtrend des "ARD-Morgenmagazins" Ende letzter Woche zufolge sind 87 Prozent der Befragten der Auffassung, dass das Eheverbot für das Priesteramt nicht mehr zeitgemäß wäre. Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, stellten die Pflicht zum Zölibat auch bereits infrage. Wie lässt sich verpflichtende Enthaltsamkeit überhaupt leben? Darüber spreche ich jetzt mit Reinhard Haller, er ist Neurologe und Chefarzt an einem Behandlungszentrum für Suchtkranke und international renommierter Kriminalpsychologe. Als Gerichtsgutachter kennt er auch Prozesse, in denen es um sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche ging. Ich grüße Sie, Herr Haller!

Reinhard Haller: Guten Tag nach Berlin!

Heise: Was geschieht eigentlich bei sexueller Enthaltsamkeit mit der Kraft des Sexualtriebes?

Haller: Die Sexualität ist eine enorme Macht. Wir müssen davon ausgehen, dass sie diejenige Kraft ist, die die Menschheit zusammen mit der Aggressivität voranbringt, und jeder Mensch ist dem, wenn man so will, ausgesetzt oder er kann es im positiven Sinne nutzen. Wenn nun das unterdrückt wird, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder entsteht in Art eines Dampfkessels ein pathologischer Grund, aus dem heraus dann alles Mögliche entsteht mit sexuellen Übergriffen, mit sexuellen Notlösungen, oder es könnte auch gelingen, im positiven Fall, dass man diese Kraft der Sexualität positiv verwandelt, also in sportliche Leistung, in künstlerischen Wettkampf und so weiter umwandelt, was aber, glaube ich, nur den wenigsten Menschen tatsächlich möglich sein wird.

Heise: Was geschieht denn bei Zwangsenthaltsamkeit, ist das noch mal eine andere Problematik?

Haller: Das Hauptproblem besteht meines Erachtens darin, dass die Menschen insbesondere in der katholischen Kirche darauf nicht vorbereitet werden. Sie werden gleichsam mit diesem Gebot konfrontiert, sollten danach leben, sind aber darauf überhaupt nicht vorbereitet, gerüstet, haben nichts mitbekommen, womit sie lernen könnten damit einigermaßen konstruktiv umzugehen. In anderen Religionen wird das etwas anders gehandhabt: Im Buddhismus zum Beispiel versucht man tatsächlich durch jahrelange Übungen, die Mönche darauf vorzubereiten, dass sie in sich das ganze Triebhafte tragen, dass demgegenüber auch das Durchgeistigte, das Transzendentale steht, und wie man diese beiden Kräfte sozusagen gegeneinander nicht ausspielt, sondern miteinander vereinen kann. Und das fehlt in der katholischen Kirche vollkommen, wie überhaupt in der ganzen Ausbildung Sexualpsychologie keine Rolle spielt.

Heise: Sie sind als Gerichtspsychiater tätig, Sie haben im Rahmen Ihrer Arbeit sich damit beschäftigt, wie die katholische Kirche ihren Priestern eben hilft, zölibatär zu leben, und Sie sagen jetzt, dass sie das überhaupt nicht tut. Wie haben Sie das erfahren?

Haller: Ich habe beispielsweise einmal einen Priester, dem man Missbrauch vorgeworfen hat – er hat sich auch dazu bekannt – zu dieser Frage exploriert und er hat mir dann gesagt, wir hatten eines Tages in unserer Ausbildung eine Doppelstunde für den Bereich Sexualität und der Vortragende ist hereingekommen und hat zu uns gesagt, das, worüber wir heute sprechen wollen, das wisst ihr eh ja schon alles, ihr seid erwachsene Männer, also gehen wir zum nächsten Thema über. Und das, glaube ich, ist das wirkliche Problem, dass man etwas derartig Wichtiges, wie es die Sexualität darstellt, nicht einmal anspricht, vollkommen verdrängt, und dann letztlich auch diese Priester in ihrer Hilflosigkeit allein lässt.

Heise: Der Kirchenkritiker Eugen Drewermann, der sagt hier auf diesem Sender, dass die katholische Sexuallehre Schuldgefühle schon durch ganz normale Entwicklungsschritte eigentlich hervorrufen würde, also schon dadurch, dass man einfach Mädchen und Junge ist, in der Entwicklung sexuelle Triebe erfährt, sich da überhaupt Gedanken drüber macht, was ja auch schon alles durchaus verboten ist. Das heißt, wenn sich jemand zum Priestersein entschließt aus einer sehr katholischen Umgebung beispielsweise heraus, dann hat er da sowieso schon ein ganzes Päcklein zu tragen?

Haller: Das ist vollkommen richtig, das ist das Element des Schuldhaften, dass Sündig-Sein a priori in der katholischen Lehre eine ganz große Rolle spielt und die Menschen natürlich belastet, neurotisiert und in manchen Fällen auch traumatisiert. Ich möchte aber ausdrücklich sagen, Zölibat an sich führt natürlich nicht zur Pädophilie, Pädophilie hat eine ganze Reihe von anderen Gründen. Aber Zölibat bedingt, dass die Menschen zu Notlösungen greifen und natürlich sind dann, wenn ich das so lieblos sagen darf, manchmal keine anderen, reifen, adäquaten, freiwilligen "Sexualobjekte", unter Anführungszeichen, vorhanden und dann wird die ganze Macht der Sexualität eben auf hilflose Opfer, auf die Kinder umgeleitet und auf Kosten derer ausgelebt.

Heise: Nun lebt aber ein großer Teil der katholischen Priester ja im Einklang mit der dem durch den Zölibat geforderten Enthaltsamkeit. Warum schaffen die einen das und die anderen nicht?

Haller: Ich möchte wirklich gerne wissen, wie viele das tatsächlich schaffen. Wir gehen hier von einem Ideal aus, das meiner Meinung nach nicht von vielen gelebt werden kann, und das ist auch die Realität, der sich die katholische Kirche stellen müsste, dass sie sagt, Zölibat ist etwas, von dem selbst Christus gesagt hat: Wer es fassen kann, der fasse es! So heißt es in der Heiligen Schrift, also etwas, was sozusagen nicht einmal fassbar ist. Und dem müsste man Rechnung tragen und Zölibat durchaus als Lebensform ermöglichen. Man kann es ja freiwillig tun, aber wenn, dann gut vorbereitet und vor allem nicht verpflichtet.

Heise: In Deutschlandradio Kultur hören sie zum Thema sexuelle Enthaltsamkeit Reinhard Haller, er ist Gerichtspsychiater. Herr Haller, welche Faktoren entscheiden denn Ihrer Beobachtung nach darüber, ob jetzt Enthaltsamkeit in den Missbrauch mündet?

Haller: Das ist zunächst eine Frage der Berufswahl. Wir wissen, dass pädophile Menschen a priori schon kindernahe Berufe suchen. Also sie sind natürlich überrepräsentiert, ich will jetzt also nichts Diskriminierendes sagen, aber bei Musiklehrern, bei Reitlehrern, bei Jugendtrainern, möglicherweise auch in meinem eigenen Beruf, also bei Berufen, bei denen man sozusagen legitim nahe an die Kinder herankommt. Natürlich gibt es alle möglichen Formen auch der Pädophilie, es sind manchmal unreife Menschen, die selbst noch ein Kind sind, es sind manchmal Menschen, die tatsächlich in der Welt des Kindes leben und mit dem Kind so umgehen, wie sie es selbst gern gehabt hätten, nur dann die Grenze zur Sexualität nicht kennen, es gibt Menschen, die erst im Alter sozusagen auf das kindliche Sexualobjekt kommen, wenn ihre eigenen Kräfte nachlassen, und es gibt leider auch diejenigen, die auf Deutsch gesagt falsch programmiert sind, die keine andere sexuelle Empfindung erleben können als durch die Ausrichtung auf das Kind. Das sind die gefährlichsten und diejenigen, die man am wenigsten therapieren kann.

Heise: Der Papst hat in seinem Hirtenbrief ja eingeräumt, dass es bei der Feststellung der Eignung zum Priesternachwuchs durchaus Probleme gäbe. Die Entscheidung, Priester zu werden, also den Zölibat anzunehmen, das ist ja in unseren Tagen eine freiwillige Entscheidung. Ist den jungen Priestern eigentlich die Dimension ihrer Entscheidung klar?

Haller: Das kann ich mir nicht vorstellen, dass ein junger Mensch, der gar nicht weiß, was ja noch alles auf ihn zukommt, wie das Konzert der Hormone spielen wird im Lauf seiner Entwicklung, wie er sich selbst nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Sexualität sehnt, wie er das tatsächlich schon richtig abschätzen kann. Ich denke mir, also es wäre auf der einen Seite eine wichtige Aufgabe, dass man die Kriterien der Auswahl verbessert, dass hier auch psychologische Kenntnisse der Persönlichkeitspsychologie, psychologische Kenntnisse der Sexualneurosen und so weiter einfließen, dass man die Menschen also besser screent, besser auswählt und dann in einem zweiten Schritt intensivst auf das vorbereitet, und dann kann man immer noch sehen, ob sie dafür bereit sind. Ich glaube, dass es nur ein kleiner Teil tatsächlich schaffen kann, das gibt es in allen Religionen, aber das liegt meines Erachtens unter zehn Prozent.

Heise: Wie kann denn so eine Vorbereitung tatsächlich aussehen?

Haller: Es geht zunächst einmal darum, dass die Kirche ihre ablehnende Haltung gegenüber allen Kenntnissen der Psychotherapie, der Psychologie, der Psychoanalyse und so weiter revidiert, dass sie das nicht als Konkurrenz oder als etwas Feindliches erlebt, sondern als ein Hilfsmittel, das auch für die Seelsorge in ihrer gesamten Dimension von größter Wichtigkeit ist. Es ist des weiteren meines Erachtens erforderlich, dass man diese Menschen mit Methoden der Gruppenpsychologie, der Schulung über Verhaltenstherapie und so weiter auf diese, auf das Zölibat vorbereitet, und nur dann hat man wahrscheinlich auch eine Chance, das in einer solchen Form den Menschen vermitteln zu können, dass sie nicht auf Kosten anderer diese Lebensweise führen.

Heise: Über die sexuelle Enthaltsamkeit und die Vorbereitung auf ein zölibatäres Leben sprach ich mit Reinhard Haller, er ist Gerichtspsychiater. Vielen Dank, Herr Haller, für das Gespräch!

Haller: Vielen Dank!

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