Die schmutzig-braunen Finger eines Vorzeigeunternehmens

Rezensiert von Pieke Biermann · 10.11.2013
Lange haben die Oetker-Kinder gerungen, bis sie schließlich 2009 den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, Andreas Wirsching, sowie seine Kollegen beauftragten, die Geschichte des Familienunternehmens zwischen 1933 und 1945 zu erforschen.
Einen eklatanten Mangel an Firmen- und Unternehmerbiografien wird man dem hiesigen Buchmarkt kaum nachsagen können. Inzwischen werden sie nicht mehr nur von hauseigenen Schönschreibern verfasst. Eine neue Generation kritischer Historiografen holt immer mehr Beschwiegenes, wenn nicht Umgedichtetes ans Licht: Die schmutzig-braunen Finger der Rüstungs-, Chemie-, Schwerindustrie und der Banken sind einer breiten Öffentlichkeit also geläufig, nicht zuletzt, weil auch manche Firmenerben das Schweigen und die Lügen über die Herkunft ihres Reichtums nicht mehr mitmachen, sondern darüber schreiben und Filme drehen. Oft gegen erbitterten familiären Widerstand.

Braucht es da noch ein dickes Buch über eine Bielefelder Backpulverfabrik? Ist Dr. Oetker "systemrelevant"? Ganz uneingeschränkt: Ja. Denn erstens zielte die 1891 gegründete Firma von Anfang an auf einen Massenmarkt. Dr. August Oetker war ein Unternehmer neuen Typs mit einem Riecher für die vier Säulen moderner Marketingstrategie: Sorg dafür, dass dein Produkt erstens zum Markennamen wird, zweitens in aller Munde und drittens überall zu haben ist, und expandiere viertens, wo immer es geht. Die Marke bekommt ein Signet, den "hellen Kopf" im dunklen Oval, das auf der ständig erweiterten Produktpalette prangt, zielgruppenorientierte Werbung und ein Vertriebsnetz im In- und Ausland.

Cover "Dr. Oetker und der Nationalsozialismus"
Cover "Dr. Oetker und der Nationalsozialismus"© Verlag C.H. Beck
Musterhaft exemplarisches Unternehmen
Zweitens wird der "Reichsnährstand" ab 1933 zum Faktor der Kriegsplanung und ab 1939 kriegswichtig. Ein mittlerer Nahrungsmittelkonzern, Inbegriff des braven normalen Familienbetriebs – lokal verwurzelt, fürsorglich gegenüber der Belegschaft, modernisierungsfreudig und spendabel – ist geradezu musterhaft exemplarisch.

Drittens – und das macht die Sache noch einmal anders interessant – wurde diese Studie von der Dr. Oetker KG selbst in Auftrag gegeben und finanziert. Drei Münchener Historiker haben daran gearbeitet, eine heikle Ausgangslage, deshalb notieren sie gleich anfangs:

Der professionelle Abstand des Historikers blieb jederzeit gewahrt – er war gewünscht und wurde respektiert. Die Auftraggeber bekannten sich von vornherein zur Notwendigkeit einer Publikation, ohne zu wissen, welche Befunde die Quellenarbeit liefern würde. Die Verfasser hatten uneingeschränkten Zugriff auf das Oetker-Firmenarchiv, in dem sie über mehrere Monate hinweg völlig frei recherchieren konnten. Das Firmenarchiv wird der wissenschaftlichen Forschung in Zukunft offenstehen.

Zur Verfügung standen außerdem private Korrespondenzen und Archive von Beteiligungsfirmen. Herausgekommen sind gut 400 Seiten Text mit Bildern und Tabellen und 200 Seiten Anhang; allein die Liste der hinzugezogenen Archive, Bestände, Entnazifizierungs- und Wiedergutmachungsakten ist gut sieben Seiten lang.

Zentralfigur der Studie ist jedoch kein Oetker, mit oder ohne Doktor, sondern Dr. Richard Kaselowsky. Kaselowsky war durch tragische Zufälle zu seiner Schlüsselrolle gekommen. Der eigentliche Kronprinz Rudolf Oetker war 1916 vor Verdun gefallen, der Patriarch August 1918 gestorben – wer sollte regieren? Der nächste Kronprinz, Rudolfs Sohn Rudolf-August, würde erst ab Mitte der 40er Jahre die Geschäfte zum Wohl der Familie Oetker wie der ganzen "Hellkopf"-Familie führen können.

Kaselowsky ist ein Jugendfreund von Rudolf. 1918 heiratet er dessen Witwe Ida, steigt in die Firma ein und entpuppt sich als idealer Stellvertreter – als Vater und Ausbilder von Rudolf-August, und selbst noch nach seinem Tod bei einem Bombenangriff 1944 als Katalysator für die rasche Entnazifizierung fast der kompletten Firmenspitze einschließlich des SS-Manns Rudolf-August und für die Rettung des keineswegs koscher erworbenen Firmenvermögens. Für das er selbst gesorgt hatte.

"Nationalsozialist des Herzens"
Wie, das dokumentieren die Autoren en détail an Kaselowskys operativen und strategischen Aktivitäten. Zur Erklärung, wieso Kaselowsky sich selbst als "Nationalsozialist des Herzens" empfinden konnte, greifen sie auf das Konzept der "Selbstmobilisierung" zurück, das der Bremer Historiker Karl-Heinz Ludwig für die technische Intelligenz des "Dritten Reichs" vorgeschlagen hatte.

"Richard Kaselowsky handelte in einem Spannungsfeld von politischen Überzeugungen, bürgerlichem Wertekanon und unternehmerischer Rationalität. Letztere war und blieb die übergeordnete, aber nicht die einzige Richtschnur in einem vielschichtigen Prozess der «Selbstmobilisierung». Kaselowskys Nähe zum Nationalsozialismus entsprach nicht nur betriebswirtschaftlichem Kalkül, sondern eigener weltanschaulicher Überzeugung. Er erkannte in den Zielen der nationalsozialistischen Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung ein übergeordnetes Interesse, für das er im Einzelfall durchaus bereit war, auf unternehmerische Vorteile zu verzichten."

"Dr. Oetker und der Nationalsozialismus" hat zwar nicht die angelsächsische narrative Brillanz, die mittlerweile auch von deutschen Historikern gepflegt wird. Aber es ist gut lesbar und faktenreich, akribisch belegt und wissenschaftlich redlich interpretiert. Vieles "muss offen bleiben", und manchmal hat man beim Lesen das leise Gefühl, zwischen den Zeilen – nein, nicht das Klappern einer Zensurschere im Kopf zu hören, aber vielleicht die bange Frage der Geldgeber, wie sehr man sich denn heute schämen muss.

"Ab wann sich Kaselowsky aktiv und offen auf die Seite der NS-Bewegung schlug, muss offen bleiben. Wenn [er] auch bis 1933 sicherlich kein militanter und ideologisch überzeugter Nationalsozialist, kein Parteimitglied oder gar Freund von Himmlers SS war, so spricht doch vieles dafür, dass er in der Auflösungsphase der Weimarer Republik mit der NSDAP zu sympathisieren begann und in Hitler den überzeugendsten Ausweg aus einer immer verworreneren Situation sah. Damit würde er eine politische Entwicklung vollzogen haben, die er mit Millionen Deutschen teilte."

Korruption, Arisierung, Kriegswirtschaft
Ganz ohne konjunktivisches Zartgefühl dagegen belegen die Autoren einmal mehr, wie viel "unternehmerisches Geschick" sich dem Nazistaat selbst verdankt, genauer: seinen schönen Standortvorteilen wie Korruption, Arisierung, Kriegswirtschaft, also erweiterten Rohstoff- und Absatzgebieten.

Auf eine "ehrbare Kaufmannstradition", die durch die "dunkle Zeit gerettet" werden musste, kann sich heute niemand mehr berufen. Abgesehen davon, dass aus dieser Tradition selbstgefällig das antisemitische Klischee von der "jüdischen Geschäftemacherei" abgeleitet wurde: Just in der kaufmännisch-unpolitischen Rationalität ist die Korrumpierbarkeit angelegt – kein guter Kaufmann lässt sich entgehen, dass gewisse dunkle Aspekte seiner Zeit seinen Laden so richtig zum Leuchten bringen.

Das gilt überall und auch heute – für Produzenten von Drohnen zum Beispiel. Die für jedes System relevante Normalität unternehmerischen Handelns ist vielleicht der wichtigste, weil aktuell nutzbare Erkenntnisgewinn dieser Studie.

Jürgen Finger/ Sven Keller/ Andreas Wirsching:
Dr. Oetker und der Nationalsozialismus - Geschichte eines Familienunternehmens 1933-1945

Verlag C. H. Beck, München 2013
624 Seiten mit 24 Abbildungen und 4 Tabellen
gebunden, 29,95 EUR [eBook 24,99 EUR]