Die Schechita

Von Heinz-Peter Katlewski · 01.01.2010
Zur religiösen Tradition von Juden - und auch von Muslimen - gehört, dass das Schlachten von Tieren nach der Methode des Schächtens zu erfolgen hat. Manchen Tierschützern gilt das als eine besonders grausame Methode, das Leben der Tiere zu beenden. Seit Jahrzehnten versuchen sie deshalb immer wieder, es rechtlich zu unterbinden. Aus jüdischer Sicht ist das Gegenteil der Fall. Wenn richtig geschächtet wird, ist das Leiden der Tiere weitaus geringer als bei der industriell durchgeführten Schlachtung. Das jüdische Religionsrecht kennt aber auch noch andere gute Gründe für dieses Verfahren.
Mehr als 50 Millionen Schweine und bald dreieinhalb Millionen Rinder wurden 2007 in deutschen Schlachthöfen industriell geschlachtet. Die immer wieder aufbrechende Diskussion über das jüdische Schächten und die Forderung, es zu verbieten, stehe in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung dieser Methode in Deutschland, meint der orthodoxe Düsseldorfer Gemeinderabbiner Julian Chaim Soussan:

"Wenn man vergleicht, was 80 Millionen Deutsche an Fleisch im Jahr verbrauchen, wie viele Tiere letztendlich ihr Leben lassen, sprechen wir nicht mal von 0,0 Prozent, also das ist einfach vergleichsweise sehr, sehr gering."

In Deutschland gibt es überhaupt nur noch einen einzigen Ort, an dem nach den Regeln des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, koscher geschlachtet wird – und das ist Berlin. In München oder Frankfurt am Main gibt es zwar auch jüdische Metzgereien, aber nachdem es dort in den Schlachthöfen Veränderungen gegeben hat, schlachten sie nicht mehr selbst. Sie erhalten ihr Fleisch aus dem Ausland.

Akiwa Heller ist Chef eines solchen Betriebes in Frankfurt in einem Hinterhof in der Hanauer Landstraße. Sein Laden führt neben Fleischwaren auch andere Lebensmittel und auch einige Judaica. Wo bekommt er seine Ware her? Akiwa Heller:

"Also, das meiste aus Belgien und Frankreich und Israel, manchmal auch Amerika und, ja, da, wo es jüdische Hochburgen gibt, wird halt viel produziert. Und ich kann auch nicht überall kaufen. Ich muss egal, welchen Anbieter ich benutzen möchte, welchen Lieferant, ich muss erst mal zu unserem Rabbiner gehen. Und wenn der mir das bestätigt, das akzeptiert, dass es dort koscher genug ist für seinen Maßstab, dann kann ich das hier unseren Kunden auch anbieten."

Dass etwas 'koscher' ist und nach den Regeln der jüdischen Speisegesetze, der Kaschrut hergestellt wurde, ist gerade bei Lebensmitteln eine Grundvoraussetzung dafür, dass religiöse Juden sie essen können. Aber was ist koscher? Das Hebräisch-Lexikon bietet dafür sechs deutsche Begriffe an: rein, erlaubt, tauglich, passend, gut und geeignet. Der Düsseldorfer Gemeinderabbiner Julian Chaim Soussan erklärt:

"Koscher ist eine Bezeichnung erst einmal, dass es rituell erlaubt ist. Das ist in unserem Sprachgebrauch streng bezogen auf das Essen. Aber das ist natürlich auch in einem anderen weiteren Zusammenhang eine Thorarolle zum Beispiel, wo der eine oder andere Buchstabe falsch geschrieben wäre oder fehlt, ist dann auch nicht mehr koscher, also rituell brauchbar. Im engeren Sinne koscher, eben aufs Essen bezogen bezieht sich zunächst einmal auf die verschiedenen Tierarten, die man überhaupt essen darf. Das bekannteste ist natürlich das Schwein, das nicht erlaubt ist. Aber im Allgemeinen gibt es da eben Regeln, die in der Thora festgelegt sind."

Die schriftliche Thora, das sind die fünf Bücher Mose, die ersten Bücher der Bibel. Im 3. Buch Mose wird eine Rede berichtet, die Gott über Mose und Aaron an die Kinder Israels richtete. Darin fordert er von ihnen: "Ihr sollt euch heilig halten, damit ihr heilig seid". Rabbiner Julian Chaim Soussan:

"Und weil ihr ein heiliges Volk seid, sollt ihr Euch an bestimmte Gesetze halten. Und geht los dann dort mit dem Gesetz des koscheren Fleisches. Also die verschiedenen Arten, die man essen darf."

Das sind neben allen Fischen mit Schuppen und Flossen alle Paarhufer, die auch Wiederkäuer sind, also Rinder, Schafe, Ziegen und Hirschtiere sowie das übliche Hausgeflügel wie Hühner, Puten, Enten und Gänse. Aber für all diese warmblütigen Tiere gilt ein einschränkendes Gebot, das in ähnlicher Form wiederholt in den fünf Büchern Mose steht:

"Nur bleibe fest und iss nicht das Blut, denn das Blut ist die Seele, und du sollst nicht die Seele mit dem Fleische essen. Du darfst es nicht essen, auf die Erde musst du es auslaufen lassen."

An anderer Stelle wird den Israeliten befohlen, keinerlei Tiere zu essen, die verendet sind oder von Raubtieren gerissen wurden. Deshalb ist Juden übrigens auch die Jagd verboten. Es ist also nebensächlich, ob die Tiere vor längerer Zeit gestorben sind oder gerade eben. Sie gelten als Aas. Wie müssen Tiere, die Juden essen dürfen, geschlachtet werden, damit sie koscher bleiben? Die religiöse Vorschrift in der Bibel ist knapp. In der Thora im fünften Buch Mose heißt es dazu nur:

Rabbiner Julian Chaim Soussan: "So schlachte von Deinen Rindern und Schafen, die der Ewige Dir gibt, so wie ich es Dir befohlen habe und iss davon in Deinen Toren ganz nach Herzenslust." An irgendeiner Stelle muss Gott also befohlen haben, wie man schächtet. Es gibt noch weitere Hinweise, biblische Hinweise, wie beispielsweise, dass Awraham, der seinen Sohn Yitzhaq opfern soll, nur Holz mitnimmt und ein Messer. Also es gibt offensichtlich eine Tradition, wie das Leben eines Säugetieres beendet wird ..."

... denn statt seines Sohnes, berichtet die Bibel, opfert er ja schließlich mit diesem Messer einen Widder. Was Gott befohlen hat, findet sich nach jüdischer Tradition in der sogenannten mündlichen Thora. Sie hat sich in den ersten fünf Jahrhunderten der Zeitrechnung aus den Lehren der jüdischen Gelehrten über die fünf Bücher Mose und der ausgedehnten Diskussion darüber herausgebildet. Diese mündliche Thora wurde im Talmud zusammengefasst und protokolliert. Wie geschächtet werden soll, wird dort verhandelt. Im Mittelalter wurde das dann durch Maimonides, Rabbiner Moses Ben Maimon , kodifiziert, im frühen 16. Jahrhundert legte für das traditionelle Judentum Rabbiner Josef Karo die religionsrechtlichen Bestimmungen für das Schächten fest. Wie also hat das Schächten, hebräisch: die Sch'chita, zu erfolgen? Rabbiner Soussan:

"Die Sch'chita funktioniert so, dass man mit einem durchgängigen Schnitt ohne abzusetzen direkt die Luftröhre komplett und zumindest den Großteil der Speiseröhre durchtrennen soll. Dabei werden auch zwei Nerven, die sich an den Seiten der Luft- und Speiseröhre befinden durchtrennt, die zum Gehirn gehen. Nach auch wissenschaftlichen Messungen sind diese Nerven dafür zuständig das Schmerzempfinden im Gehirn auszuschalten. Das heißt während das Tier noch am Ausbluten ist, funktioniert das Gehirn nicht mehr so, dass es Schmerzempfinden senden kann. Also, wir gehen davon aus, dass ein geschächtetes Tier nur einen ganz kurzen, möglicherweise gar keinen Moment des Schmerzempfindens während der Schächtung erlebt."

In Deutschland wird nur noch in Berlin geschächtet. Reuven Yaakobov, der Rabbiner der Synagoge Tiferet Israel der sefardischen Juden der Hauptstadt, ist einer von zwei ausgebildeten Schächtern, die dieses Amt noch ausüben. Er hat in Israel allein anderthalb Jahre für die Ausbildung zum Schächter - zum Schochet - an einer Talmudhochschule verbracht. Dort lernte er neben den jüdisch-religionsgesetzlichen Grundlagen des Schächtens, Wissen über die Anatomie der Schlachttiere, tiermedizinische Grundlagenkenntnisse und natürlich die Technik des korrekten jüdischen Schlachtens.

Das Wichtigste, meint der in Usbekistan geborene und aufgewachsene Rabbiner, sei dabei das Messer. Es muss zur Größe des Tieres passen und es darf nur ein Schnitt durchgeführt werden – ohne Druck oder Schlag, ohne Säbeln und ohne Reißen. Rabbiner Reuven Yaakobov:

"Ein Messer muss glatt und scharf sein. Falls ein Messer glatt und scharf ist, sie können auch mit diesem Messer die Finger schneiden und es tut nicht weh. Es ist glatt und scharf, merkt man das nicht. Nur nachdem die Blut schon ein bisschen raus, kann man das merken, oh, ich habe meinen Finger geschnitten. Genau die Gleiche hier. Unsere Religion ist verboten, Tiere weh zu tun. Es gibt irgendwelche kleine Scharten in die Messer, dann diese Messer schon verboten zu schneiden. Kann man ein Beispiel nehmen: eine Rasierklinge – die Schlachtmesser ist dreifach bessere Qualität."

Das traditionelle jüdische Religionsrecht, die Halacha, ist streng. Das Messer muss ständig geprüft und sauber, ohne einen Grat zu hinterlassen, nachgeschliffen werden. Eine Scharte darin und schon macht es alle Schlachtungen seit der letzten Prüfung unkoscher. Das Fleisch wird vom Schlachthof zwar dann immer noch verwertet, für die jüdische Küche aber ist es nicht mehr geeignet, und für den Schochet bedeutet das zwangsläufig einen Verlust.

Schon deshalb wird er alles tun, um seinen Job so gut zu machen wie möglich. Eine Initiative Jüdischer Tierschutz aus München macht allerdings darauf aufmerksam, dass der Schächtschnitt bei großen Fleischtieren Maßnahmen verlangt, die sie doch unter erheblichen Stress setzen. In vielen Fällen werde sie in eine Box eingeklemmt. Die Sprecherin der Initiative Hanna Rheinz:

"Beim Schächten wird das Tier im bewussten Zustand erst einmal in eine Seiten- oder eine Rückenposition gebracht, und das geschieht natürlich heute durch Apparaturen, weil die Tiere sind ja auch heute so gezüchtet, dass sie sehr groß und sehr schwer sind. Und der Schächter kann ein einzelnes Tier gar nicht alleine in die Seitenlage bringen oder in die Rückenlage. Er muss also irgendwie den Kopf des Tieres fixiert bekommen, überstreckt bekommen, damit er mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchschneiden kann."

Hanna Rheinz plädiert dafür, die Tiere zu betäuben. Sie schlägt eine kurzzeitige Betäubung per Elektroschock vor. Der Tierarzt und frühere Baseler Rabbiner Israel Levinger(*) hat vor Jahren zur Schechita eine umfangreiche Untersuchung veröffentlicht. Dass die Fixierung den Tieren Stress bereiten könne, hielt er für zutreffend. Dieser Stress sei aber wahrscheinlich nicht größer als andere, etwa tierärztliche Eingriffe, bei denen es gegen seine Natur zum Liegen genötigt werde. Dagegen bezweifelte er, dass die Elektroschock-Betäubung schmerzlos sei. Der Düsseldorfer Rabbiner Julian Soussan vermutet, dass es bei der Betäubungsdebatte ohnehin weniger um das Tier, als um den Menschen geht: Wir wollten das Tier zwar essen, aber seinen Todeskampf nicht sehen:

"Wenn ich bei jedem einzelnen Tier, das ich einzeln schächte, einzeln in die Hand nehmen muss, seine Todeszuckungen miterlebe, gehe ich mit dem Tod eines Tieres auch anders um als wenn ich das sozusagen am Lieferband mit irgendwelchen Betäubungsmethoden handhaben würde – also diese Massenschlachterei ist ausgeschlossen. Einerseits möchte ich es den Tieren leichter machen, aber letztendlich mache ich es ja dem Schlachter leichter, dem Metzger leichter, der die Tiere dann massenweise umbringen kann, ohne sich um deren Leid kümmern zu müssen."

Koscheres Fleisch ist teuer. Religiöse Juden werden sich deshalb nur selten erlauben, es täglich auf den Tisch zu bringen. Dass es so teuer ist, hängt nicht nur mit dem aufwendigen Schlachtverfahren zusammen. Damit es koscher für den Verzehr wird, sind einige weitere Schritte notwendig. Zunächst ist noch der Schochet gefragt. Er muss prüfen, ob es gesund war. Nur von einem gesunden Tier kann koscheres Fleisch kommen. Der Berliner Schochet und Rabbiner Yaakobov:

"Jetzt wir prüfen an die Lunge, wir prüfen an Leber, wir prüfen die ganze Organ in die Tier. Und gibt es 72 Gesetze: was wird nachgeprüft, wie wird nachgeprüft, und am Ende bleibt hundertprozentig gesunde Tier. Wieso ist das so wichtig für Judentum? Weil Gott sagt, ich möchte Dich hundertprozentig gesund haben, weil eine kranke Mensch kann nicht Gott dienen. Die Mensch soll hundertprozentig gesund sein. Deswegen Gott sagt, neunzig Prozent Krankheit kommt durch die Mund, was wir essen."

Noch aber ist dieses Fleisch nicht zum Verzehr geeignet. Es enthält Reste von Blut. Die werden nun in einer Metzgerei, die vom örtlichen Rabbinat beaufsichtigt wird, entfernt. Wie das geschieht, schildert Akiwa Heller im Verkaufsraum der koscheren Metzgerei A&L Aviv in Frankfurt am Main:

"Fleisch wird also, wenn es kommt, werden die Hauptadern entfernt, dann kommt das 30 Minuten in kaltes Wasser in ein Wasserbad, danach kommt es auf einen Metalltisch, der hat so Löcher, damit das Fleisch richtig abtropfen kann. Danach wird es mit grobem Salz ummantelt von allen Seiten. Für eine Stunde liegt es im Salz, und danach wird es abgewaschen, drei, vier Mal, damit das Salz sich wieder von dem Fleisch komplett entfernt wird. Ja, und dann ist es koscher. Dann erst kann ich es den Kunden anbieten zum Verzehr."

Manche Kunden haben nie anderes Fleisch gegessen, andere haben sich erst in den letzten Jahren dazu entschieden. Zum Beispiel weil ein Familienmitglied Wert darauf gelegt hat, stärker nach der jüdischen Tradition zu leben, nämlich koscher.

Kundin bei A&L Aviv: "Vorrangig wollte das eigentlich vor ein paar Jahren meine Tochter, das war ihr sehr wichtig. Und dann habe ich den Haushalt umgestellt, und seit einigen Jahren haben wir einen koscheren Haushalt. Ich denke, es ist auch gesünder, und, ja, die Tradition ist mir schon wichtig."

Die Zahl der Juden in Deutschland, die sich koscher ernähren, hat in den letzten Jahren zugenommen. Trotzdem sind es bislang nur ein paar Rinder und Schafe in der Woche, die in Berlin deshalb geschächtet werden müssen. Kritiker, die das Schächten ganz untersagen wollen, hoffen deshalb auf die Unterstützung von nicht-orthodoxen Rabbinern, die das jüdische Religionsgesetz häufiger undogmatisch auslegen. Zu Unrecht meint Jonah Sievers, Landesrabbiner der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und Sekretär der nicht-orthodoxen Rabbinerkonferenz. Das Schächten sei durch die jüdische Tradition geboten, und es gehöre zur Religionsfreiheit:

"Grundsätzlich geht es gar nicht darum, wie häufig oder wie viele Kühe oder Hühner geschächtet werden sollen. Es geht ja ums Prinzip. Wir wollen das weiterhin machen, nicht weil nur fünf Kühe pro Woche geschächtet werden in Deutschland. Selbst wenn 100 Kühe geschächtet werden müssten, um den Bedarf zu decken, was wir uns ja wünschen würden, das wollen wir. Das Argument läuft nicht darauf hinaus, es ist eine geringe Anzahl."

(*)Die Online-Fassung weicht an dieser Stelle von der gesendeten Fassung ab.