Die Schattenseiten der Turbo-Entwicklung

Rezensiert von Inge Kloepfer · 26.06.2011
Unzählige Autoren haben versucht, das ökonomische und gesellschaftliche Wunder, das sich in China vollzieht, zu deuten – meistens vergeblich. Nicht so Yu-Chien Kuan und seine Frau: Sie lassen die Menschen des tief gespaltenen Landes sprechen.
Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert Chinas werden. Denn schon längst ist das Reich der Mitte dabei, die Welt zu verändern – in wirtschaftlicher, geopolitischer und kultureller Hinsicht. Es wird in kurzer Zeit in die Rolle einer neuen Supermacht hineinwachsen – nicht zuletzt ob seiner ökonomischen Übermacht.

Auch rückblickend hat sich das Land im Zeitraffer entwickelt, seit Deng Xiaoping 1978 die Führung des kommunistischen China übernahm und ihm sukzessive die ökonomische Freiheit zurückgegeben hat – einem damals noch bettelarmen Milliardenvolk, das von Mao Zedong malträtiert worden war.

"In nur dreißig Jahren gelang den Chinesen, wozu andere Völker mehrere Hundert Jahre benötigten",

schreiben die Hamburger Sinologen Yu-Chien Kuan und seine Frau Petra Häring-Kuan in ihrem neuen Buch.

"Die Reformpolitik der letzten Jahrzehnte ist eine einmalige Erfolgsgeschichte, die in einem derart rasanten Tempo verlief, dass für viele Chinesen die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint."

Unheimlich und seltsam faszinierend ist das für Außenstehende. Und beängstigend – sogar für viele Chinesen, die seit einiger Zeit auch die Schattenseiten dieser Turbo-Entwicklung hin zu einer modernen hoch kapitalistischen Industriegesellschaft erkennen: einen gnadenlosen Egoismus, eine wachsende soziale Ungleichheit, Korruption und Umweltverschmutzung.

Unzählige Autoren haben versucht, das ökonomische und gesellschaftliche Wunder, das sich in China vollzieht, zu deuten – meistens vergeblich. "China is the forcasters‘ graveyard" – China ist der Friedhof der Prognostiker, schrieb mal einer und sollte selbst recht behalten. Bücher über China gibt es viele, richtig gute nicht.

Wer wirklich eine Ahnung davon bekommen will, welche Wandlungen sich mit Beginn der Ära Dengs vollzogen und wie China diesen atemberaubenden Aufschwung nahm, der sollte, nein der muss das Buch "Pulverfass China" von Yu-Chien Kuan und seiner Frau Petra Häring-Kuan lesen. Der Titel ist zugegebenermaßen ziemlich flach. Doch das, was zwischen den Buchdeckeln zu finden ist, ist großartig.

Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Ansammlung individueller Geschichten, Erinnerungen und Reflexionen aus dem Reich der Mitte, die allesamt mehr aussagen als die häufig so vergeblichen Versuche von Historikern, Soziologen oder Ökonomen, China zu deuten. Die Kuans halten sich mit derlei denn auch eindeutig zurück. Sie lassen die Menschen des tief gespaltenen Landes sprechen, von dem der Westen fast ausschließlich die Wachstumsstory wahrnimmt.

Ihre Zurückhaltung kann man den beiden, die schon mehrere Bücher verfasst haben, nicht hoch genug anrechnen. Denn vor allem Yu-Chien Kuan, der die Besatzung Shanghais durch die Japaner und danach die Kulturrevolution unter Mao erlebt und durchlitten hat, der über Ägypten geflohen und ohne ein Wort Deutsch zu können in Hamburg gestrandet ist, ihm, dem 80-Jährigen, stünde es aufgrund seines eigenen Lebenslaufes durchaus zu, den Gang der Dinge zu interpretieren.

Aber Kuan und seine Frau stellen noch immer lieber Fragen – und das ist ihre große Stärke:

"Was denken die Chinesen über ihr Land? Wie schätzen sie ihre gegenwärtige Situation und ihre Zukunft ein?"

"In fast 200 Interviews haben wir Menschen verschiedener Altersgruppen und aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen gefragt, in Stadt und Land, im Süden wie im Norden, im Osten wie im Westen."

Die Antworten ergeben ein ungemein facettenreiches Bild von Gewinnern und Verlierern des chinesischen Wunders, von Claqueuren und Kritikern der Politik, von Menschen, die längst in der Moderne leben und solchen, die dort niemals ankommen werden.

Eine der faszinierendsten Geschichten in diesem Buch handelt von einem "Dorf im Wandel". Vielleicht, weil hier auf der Mikroebene ersichtlich wird, wie die Menschen im Land über die Jahre ihren Wohlstand gesteigert haben und wie sie die immer neuen Freiräume nutzten, um Geschäfte zu machen. Davon erzählt eine 75-jährige Dorfvorsteherin aus einer sehr armen Familie, die als achtjähriges Kind von ihrem Vater in just dieses Dorf verkauft wurde. Sie ist nicht zur Schule gegangen, bezeichnet sich selbst als halbe Analphabetin und hat ihr Leben lang gearbeitet.

Die Bauern dieses Dorfes unweit von Peking begannen in den 90er Jahren als Kollektiv ihr Land zu verpachten, weil der Weizenanbau nicht einträglich war. Zunächst an eine Pekinger Fleischverarbeitungsfirma, später an Hightech-Unternehmen und eine Supermarktkette mit ihren 150 Gewächshäusern. Mit den Betrieben kamen Arbeitsplätze und Pachteinnahmen, die wiederum kollektiv verwaltet und jetzt vor allem für Gesundheit, Bildung und Altersversorgung ausgegeben werden. Der beachtliche Wohlstand des Dorfes lässt sich an den renovierten Häuserfassaden ablesen, an den Autos, die davor parken und mit denen einige Bewohner täglich nach Peking zur Arbeit fahren.
Allerdings gibt es auch die andere Seite des wirtschaftlichen Erfolgs:

"Wie überall in China ist es durch die Reform- und Öffnungspolitik auch in den ländlichen Gebieten zu ungleichen Besitzverhältnissen gekommen."

"Es gibt wieder arme und reiche Bauern, kleine und große Betriebe",

resümieren die Autoren. Es gibt schlaue Leute und es gibt weniger gewiefte, die aus den neuen Verhältnissen keine Vorteile zu schlagen wussten. Es gibt solche, die Nutzungsrechte verkaufen und andere, die das nicht wollen und mit Gewalt dazu gezwungen werden. Es gibt brutale Auseinandersetzungen, Hunderte von Millionen mittelloser Wanderarbeiter. Und es gibt lokale Behörden, die sich ihrerseits ganz nach Belieben ein gutes Stück des Wohlstandszuwachses abschneiden – so wie es gemeinhin ist, wenn Menschen im Kapitalismus ankommen.

"Mit den Wirtschaftsreformen entstanden völlig neue Begriffe wie der einer sozialistischen Marktwirtschaft",

schreiben die Kuans.

"Da für eine Menge Leute aber Sozialismus und Marktwirtschaft nicht wirklich zusammenpassen, schuf man einen neuen Begriff, mit dem alle leben können, den 'Sozialismus chinesischer Prägung'."

Das ist eben die chinesische Deutung der jüngsten Geschichte. China ist längst ein kapitalistisches Land geworden, viel kapitalistischer als viele Länder Westeuropas. Yu-Chien und Petra Kuan stehen dieser Entwicklung skeptisch gegenüber, denn sie hat ihren Preis:

"Nach über hundert Jahren der Revolutionen und Umbrüche, der Höhen und Tiefen finden immer mehr Chinesen Zeit, über die Gesellschaft nachzudenken …"

"… und viele von jenen, die wie ich die Revolution von 1949 erlebt und manches geopfert haben, erkennen trotz aller wirtschaftlichen Erfolge und vielfältigen Fortschritte, dass das Land krank ist",

bekennt der 80-jährige Autor. So krank, weil nach dem wirtschaftlichen Wandel der politische Wandel längst überfällig ist, so krank, dass China ohne ihn womöglich in eine gefährliche Sackgasse geraten oder – wie es der Buchtitel plakativ ausdrückt - gleich einem Pulverfass explodieren könnte. Denn die Regierung macht die Sache des Volkes - seine Freiheit und sein Wohlergehens - nicht mehr zu der ihren. Aber das hat sie – ehrlich gesagt – noch nie getan.

Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan: Pulverfass China. Der Gigant auf dem Weg ins 21. Jahrhundert
Scherz bei S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011
Cover: "Pulverfass China" von Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan
Cover: "Pulverfass China" von Petra Häring-Kuan und Yu-Chien Kuan© Scherz bei S. Fischer
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