Die Rückkehr eines Traumas

Von Clemens Verenkotte · 01.10.2012
Über 40.000 Iren haben ihrer Heimat im Jahr 2011 den Rücken gekehrt. Für 2012 wird mit einer ähnlich hohen Anzahl von Emigranten gerechnet. Es sind ganz überwiegend junge Leute, die angesichts des miserablen Arbeitsmarktes die Konsequenzen ziehen.
Es ist 22 Uhr 30 an diesem Donnerstagabend: Vor dem Gebäude der irischen Zentralbank in Dublin gibt David Monahan präzise Anweisungen: Orla und Eoin, ein junges Paar, das nach Australien auswandern will, stehen auf dem verlassenen Vorplatz etwa fünf Meter vor Davids Kamera, sowie dessen angeschlossenem Laptop und einem grell strahlenden Filmscheinwerfer. Zu ihren Füßen ein großer, verschlissener brauner Koffer, ein symbolisches Requisit, das David mitgebracht hat.

David Monahan drückt mehrmals auf den Auslöser, lädt die Bilder auf seinem Laptop hoch, betrachtet schweigend die Aufnahmen und lässt sich von den spätabendlichen Passanten nicht weiter stören, die um diese Uhrzeit noch in der ‚Dame Street‘ im Herzen der irischen Hauptstadt unterwegs sind. David hat aus der Not eine Tugend gemacht: Der 48-jährige Fotograf, der als Selbstständiger bis vor zwei Jahren noch gut von den Aufträgen staatlicher Einrichtungen wie der ‚National Irish Library‘ oder dem ‚National Museum of Ireland‘ hatte leben können, dokumentiert eines der wesentlichen Resultate der irischen Schuldenkrise. Unter dem Titel "Leaving Dublin Projections" bietet David ausreisewilligen Iren an, sie unmittelbar vor ihrer Emigration an einem Ort ihrer Wahl in Dublin nachts zu fotografieren. Orla Brennan, eine 33-jährige Sportlehrerin und vormals Kapitänin der irischen Rugby-Nationalmannschaft, hörte von einer Arbeitskollegin von Davids Projekt und war begeistert. Warum sie ausgerechnet den Platz vor der Nationalbank für ihr Fotoshooting ausgesucht habe? Die große sportliche Frau schaut ihren Freund Eoin an und gibt dann zurück:

"Da kam Mehreres zusammen: Wir haben uns hier zum ersten Mal getroffen. Wir haben uns im Internet kennengelernt und ich habe Eoin hier zum ersten Mal gesehen, vor drei Jahren. Und der Grund, warum wir offensichtlich emigrieren, ist weil die Banken alles vergeigt haben. Wir wollten die Rolle der Bank hervorheben."

Orla und ihr Freund Eoin McDonnell, ein 31-jähriger Mediziner, werden Mitte August ihre Koffer endgültig packen. Dann wollen sie nach Perth, Australien ziehen – das für viele der 40.000 Iren, die das Land im vergangenen Jahr verlassen haben, zum bevorzugten Auswanderungsziel geworden ist.

"Ich bin Allgemeinarzt, und die brauchen sie dort drüben. Vor allem an der Westküste von Australien, wo wir hingehen werden. Orla ist Lehrerin, und sie benötigen offenbar Leute wie uns, mit ihrer großen Bevölkerung drüben. Hier ist es komisch: Zur Zeit geht man hier händeringend durch die Gegend und sucht Arbeit und dort werden wir umworben. Ich habe schon einen Job, obwohl ich meinen Arbeitgeber noch nicht getroffen habe. Darum gehen wir."

Orla und Eoin schätzen die Fotoserie, mit der David Monahan die neue irische Emigrationswelle dokumentiert. Entstanden sind bislang über 75 Portraits von Menschen, denen anzusehen ist, wie sie – in sich gekehrt – Abschied von ihrem alten Leben in der Heimat nehmen.

"Sie erzählen eine Geschichte, weil - ich meine: Man sieht diese Paare, auch Familien, was eigentlich noch herzzerreißender ist, wenn Familien und Kinder emigrieren müssen. Die Bilder sind erstaunlich. Sie erzählen für sich selbst eine Geschichte."

Es ist inzwischen halb zwölf geworden, Orla und Eoin verabschieden sich, und auch David Monahan packt, im mittlerweile dicht gewordenen Regen, seine Utensilien zusammen und verstaut sie auf der Ladefläche eines schwarzen Ford-Pick ups, den ihm ein Freund geliehen hat. Kurz vor Mitternacht macht er daheim in seiner Dubliner Wohnungsküche für seine Frau und den Gast noch einen Espresso und lässt seine Eindrücke vom abendlichen Fotoshooting Revue passieren:

"Das sind die wertvollsten Leute, die wir haben, denn während wir hier sitzen und zuschauen, wie das Gras wächst, sind das die Leute, die aufstehen und was machen, für sich selbst. Sie suchen nach Wegen, ihre berufliche Laufbahn zu verbessern. Wenn sie in der Lage wären, sich hier zu betätigen, würden sie einen gewaltigen Beitrag leisten - falls es hier so etwas gäbe wie einen Aufschwung."

Geld nimmt David von seinen Landsleuten nicht, die er vor deren Ausreise im nächtlichen Dublin fotografiert. Die Idee dazu habe ihm damals, im März 2010, ein Freund gegeben, der nach Australien ziehen und ein Abschiedsbild von sich haben wollte.

Emigration war für Iren oftmals eher die Regel, denn die Ausnahme gewesen: Angefangen von der ersten großen Auswanderungswelle während der verheerenden Hungerkatastrophe Mitte des 19. Jahrhunderts, und später während der 50er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Mit Ausnahme seiner Mutter sei deren gesamte Familie ausgewandert, Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen. Den beständigen Schmerz seiner Mutter habe er erst als Erwachsener verstehen können, sagt der 48-jährige David:

"Als Kind war ich nie in der Lage herauszufinden, warum es diese leise Melancholie oder Traurigkeit bei meiner Mutter gab. Jetzt weiß ich es. Die neue Auswanderungswelle jetzt machte mich rückblickend sehr, sehr traurig."

Mit seiner Fotoserie "Leaving Dublin Projections" wolle er Gesichter von Landsleuten festhalten, die derzeit dem miserablen irischen Arbeitsmarkt geschuldet ihr Glück im Ausland suchen müssen. So liegt die Erwerbslosenquote Irlands bei 14 Prozent. Doch unter jungen männlichen Iren beträgt sie 40 Prozent, unter jungen Frauen 30 Prozent.

Im Innenhof des Trinity College geht es geruhsam zu: Studenten, Professoren und sehr viele Touristen schlendern unbeeindruckt voneinander durch das weitläufige Areal im Herzen Dublins, vorbei an historischen Gebäuden und blühenden Kirschbaumalleen. Hier, an der ältesten und renommiertesten Universität Irlands, wird die anhaltende Wirtschafts- und Schuldenkrise des Landes aufmerksam verfolgt; nicht allein von den Hochschulabsolventen, die große Schwierigkeiten haben, auf dem heimischen Arbeitsmarkt eine erste Anstellung zu finden. Professor Alan Barrett, einer der führenden Arbeitsmarkt- und Migrationsexperten Irlands, stellt nüchtern fest:

"Das grundsätzliche Problem hier ist nicht Auswanderung, sondern die schwache Wirtschaft und mangelnden Jobs. Manchmal reden die Leute von Auswanderung im Sinne eines Problems, aber ich sehe das nicht so. Das Problem ist der Mangel an Arbeitsplätzen. Die Leute reagieren darauf in einer rationalen Weise, nämlich woanders hinzugehen und an Orte, an denen Arbeit finden können."

Es habe in Irland schon immer eine beträchtliche Abwanderung gegeben, selbst während der rasanten wirtschaftlichen Boom-Jahre, die von Mitte der 90er-Jahre bis 2007 andauerten und Irlands vorübergehenden Ruhm als "Keltischen Tiger" begründeten. Die Arbeitslosenquote lag bei knapp vier Prozent, die Staatsverschuldung war vergleichsweise moderat. Die latente Furcht vieler älterer Iren, ihre Kinder müssten einmal – wie sie selbst – aus wirtschaftlicher Not auswandern, machte einem trügerischen Gefühl des nationalen Wohlstands Platz:

"Man muss sich in Erinnerung rufen: Für Menschen meiner Generation, die in den 80er-Jahren groß geworden sind, wurde Auswanderung immer als eine Möglichkeit angesehen, nahezu Teil des Lebenslaufes. Es gab das Gefühl in Irland: Wenn man in Irland geboren ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man einen Teil seines Berufslebens im Ausland verbringt. Eine der prägenden Merkmale der Generation, die während der Keltischen Tigerjahre groß geworden sind, wenn ich so nennen darf, war: Das ist die erste Generation, die in Irland geboren wurde und annahm, dass sie in Irland arbeiten würde."

Carlow, mit nicht einmal 14.000 Einwohnern die größte Stadt im gleichnamigen Landkreis, eine gute Autostunde südwestlich von Dublin: Auf dem weiten Spielfeld trainiert die Football- Jugendmannschaft unter den strengen Augen ihrer Trainer. 15- bis 17-jährige Jungen rennen in scharfem Tempo über den abgesteckten Parcours, werfen sich im Lauf die Übungsbälle zu, üben Pass-Sicherheit und Bewegung.

Christy, ein 28jähriger Lehrer, und Sean, ein pensionierter Gefängnisbeamter, überwachen das Training, rufen den Jungs immer wieder ihre Anweisungen zu, spornen sie an. Die beiden Übungsleiter gehören der GAA an, der traditionsreichen "Gaelic Athletic Association", die mit 800.000 Mitgliedern im 4,6 Millionen Einwohner großen Irland das kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Rückgrat des Landes bildet. Leichter Regen hat an diesem Mittwochabend eingesetzt, es ist 19 Uhr, zwischen den Wolken haben sich die letzten Sonnenstrahlen ihren Weg auf das Spielfeld gebahnt. Ein einziger Zuschauer verfolgt das Training: Turlough O’Brian, dessen Sohn Ronan der Kapitän der Jugendmannschaft ist. Der 50-jährige Mann ist mit seinem Mountainbike unterwegs. Verschwitzt und auch ein wenig verdreckt, gibt er Auskunft über das Wesentliche im Leben Irlands:

"Es gibt drei große Stränge im irischen Leben: Religion, Politik und die GAA. Nun, Religion und Politik sind am Boden. Die GAA ist die letzte große Institution in Irland. Sie hält die Gemeinden zusammen. Das bedeutet den Leuten alles. Jede Gemeinde, jedes Dorf tritt gegeneinander an. Es gibt einen enormen Stolz in ihren Ort, es gibt eine gewaltige Überzeugung vom Sinn der Sache."

Die lang anhaltende Verschuldungs- und Wirtschaftskrise Irlands ging nicht spurlos an der landesweit größten ehrenamtlichen Sport-Institution vorbei: Während die GAA unverändert keine Problem hat, Kinder- und Jugendmannschaften für die beiden Hauptsportarten Hurling und Gaelic Football zu rekrutieren, geht die Anzahl bei den erwachsenen Spielerinnen und Spielern drastisch zurück. Die Auswanderung von GAA-Spielern von Irland nach Australien etwa stieg innerhalb der vergangenen anderthalb Jahre um 60 Prozent an, für dieses Jahr wird mit einem 100-prozentigen Anstieg gerechnet. Vereine auf dem Land, in den zahllosen kleinen Dörfern und Gemeinden, haben große Schwierigkeiten, überhaupt noch Herrenmannschaften aufstellen zu können. Die seien alle weg. Turlough O’Brian, vormals Banker, Vater von drei Söhnen und derzeit arbeitslos, fasst die Lage so zusammen:

"Es ist so schlimm wie damals in den 80ern. Jeder Verein verliert, eine Menge Spieler. Einige von den besser bekannten Football-Spielern, Inter-County-Spielern, können keine Arbeit finden. Sie müssen auswandern. Normalerweise würden solch Jungs Jobs wegen ihres Ansehens bekommen. Aber es gibt einfach keine Arbeit."
Für Christy Bolger ist es eine der letzten Trainings-Einheiten: Der 28-jährige Coach verlässt im Sommer das Land, um in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu arbeiten. Warum er gehe?

"Um einen Job auszufüllen, um glücklich zu sein, um ein besseres Leben zu haben, und um in einem netteren Klima zu leben, in dem man gut drauf ist und einen höheren Lebensstandard hat. Darum verlasse ich Irland. Ich bin gut ausgebildet, habe in Birmingham vier Jahre studiert, habe als Aushilfslehrer gearbeitet. Ich habe in Irland sehr hart gearbeitet und ich denke, es ist an der Zeit für ein neues Abenteuer und eine andere Herausforderung."

Christy wischt sich Regentropfen aus dem Gesicht, seine dunkelblaue Trainingsjacke glänzt vor Nässe. Was er vermissen werde, wenn er hier seine Heimat aufgebe und in Abu Dhabi leben werde? Er antwortet ohne zu zögern:

"Dieses Wetter, das werde ich bestimmt nicht vermissen. Was die GAA angeht? Das werde ich total vermissen. Mir bricht es das Herz, weil es einen so großen Teil meines Lebens ausmacht und was ich wirklich so gerne gemacht habe. Das ist wirklich schlimm. Es ist die Summe dessen, was Irland ausmacht: die GAA Gemeinschaft, eine gute, verlässliche Gemeinschaft."
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