Die rot-grünen Regierungsjahre als umfassendes Reformprojekt

Rezensiert von Günther Lachmann · 03.10.2013
Der Historiker Wolfrum legt eine ausführliche und sehr lesenswerte Darstellung der rot-grünen Regierungsjahre von 1998 bis ins Jahr 2005 vor. Er zeigt auf, welche Auswirkungen die damaligen Entscheidungen bis heute haben, versäumt jedoch allzu oft, das historisch einzuordnen.
Sieben Jahre war Rot-Grün an der Macht und die Implikationen auf die aktuelle Politik in Deutschland und Europa sind enorm. Der Euro, der in den rot-grünen Regierungsjahren mit viel Tamtam eingeführt wurde, droht zu scheitern. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 und der ökonomische Niedergang Südeuropas sind Folgen der von der rot-grünen Regierung mitbetrieben Liberalisierung der Finanzmärkte. Insofern fällt eine Abgrenzung zwischen damals und heute schwer.

Detail-Fülle und Akribie
Vielleicht hat der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum gerade deshalb nur wenige Zeilen auf den wirtschafts- und finanzpolitischen Umbau der Bundesrepublik verwendet. Flüchtig streift er die umfangreiche Steuerreform aus dem Jahr 2000 zugunsten der Wirtschaft und die zahllosen Gesetze zur Liberalisierung der Finanzindustrie. Und weil er sich bei diesen Fragen so kurz fasst, und weil er auf den insgesamt 800 Seiten nur wenig bewertet, deshalb ist es geradezu unverständlich, wie der Autor ausgerechnet hier zu diesem Urteil kommt:

"Rot-Grün hat in einer Zeit, als der weltweite Trend in Richtung umfänglicher Deregulierung der Finanzmärkte ging, eher gebremst, als der öffentlichen Meinung, vielen Experten und der Opposition, die Beschleunigung verlangten, nachzugeben."

Stark ist das Buch in seiner Detail-Fülle und Dichte. Mit der Akribie des leidenschaftlichen Chronisten führt Wolfrum den Leser durch die aufregenden Jahre voller äußerer und innerer, sprich hausgemachter, Katastrophen. Es war die Zeit des Übergangs vom 20. ins 21. Jahrhundert, des politischen Aufbruchs und der Umwälzungen, schreibt Wolfrum.

"Das Ende der Zweiteilung der Welt und des Kalten Krieges sowie die Revolution der Staatenwelt führten zu einer Rückkehr und Verwandlung Europas von historischem Ausmaß innerhalb eines nur sehr kurzen Zeitraums."

Es sind Jahre, in denen der Krieg nach Europa zurückkehrt, Al-Kaida die westliche Welt terrorisiert, und die "Globalisierung in vielfältigen Formen in die Lebenswelt der Menschen" eindringt, so Wolfrum. Und weiter:

"Insgesamt waren die Jahre zwischen 1998 und 2005 Schlüsseljahre für die weitere Entwicklung des Landes, das stärker als zuvor seiner globalen Verflechtungen gewahr wurde, sich unter dem Druck gesellschaftlicher Modernisierung befand und einen politischen Generationenwechsel durchlebte."

Den Anfang macht ein fulminanter Wahlsieg Gerhard Schröders.

"Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen."

Edgar Wolfrum - Rot Grün an der Macht (Lesart)
Edgar Wolfrum - Rot Grün an der Macht (Lesart)© Promo
Lafontaine war seiner Zeit voraus
Doch die Freude über den Sieg währt nicht lange. Bald schon wird sie von der Rivalität zwischen Schröder und Oskar Lafontaine überstrahlt. Lafontaine ist damals SPD-Vorsitzender und Finanzminister. Auch er wäre gerne Kanzler geworden. Jetzt führt er ein um zahlreiche Kompetenzen erweitertes Finanzministerium und will "die Architektur des Weltfinanzsystems" erneuern und so dem "weltweiten Spielcasino entgegentreten".

Doch mit diesem Ansinnen steht er nicht nur in der Bundesregierung, sondern weltweit allein da. Er bringt die Finanzindustrie, die US-Regierung und die Medien gegen sich auf. Der Geist der Zeit war gegen Lafontaine. Wolfrum schreibt:

"Deutliche Rufe nach Regeln und staatlicher Steuerung sind viel jüngeren Datums; so gesehen kann sich Oskar Lafontaine durchaus als Vordenker bezeichnen. Doch in der Zeit selbst glaubte man, dass an den Börsen alles machbar sei und nur Minderbemittelte oder Gestrige nicht die Chancen ergriffen, ihr Geld schnell zu vermehren."

Auch Schröder vertritt grundsätzlich andere Ansichten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wolfrum zeichnet den Kampf zwischen den beiden sehr genau nach: Wie aus internen Sitzungen Informationen an die Medien gespielt werden, die Lafontaine schaden und schließlich im März 1999, nach nur sechs Monaten Regierungszeit, zu Lafontaines Rücktritt von allen Ämtern führen.

Lafontaines Rückzug fällt in jene Wochen, in denen sich der Jugoslawien-Konflikt dramatisch zuspitzt. Die Nato beschließt einen Militärschlag. "Bleich wie ein Gespenst" so Wolfrum, verkündet Schröder in einer Fernsehansprache, dass sich erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz befänden.

Gerhard Schröder: "Ich rufe von dieser Stelle aus alle Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, in dieser Stunde zu unseren Soldaten zu stehen. Sie und ihre Familien sollen wissen, dass wir das Menschenmögliche tun für den Schutz unserer Soldaten bei diesem schwierigen und auch gefahrvollen Einsatz."

Attacke mit blutrotem Farbbeutel
Die New York Times schreibt vom "Ende der Nachkriegszeit in Deutschland". Der Kampfeinsatz belastet die Koalition, die pazifistisch verwurzelten Grünen drohen gar daran zu zerbrechen.

Joschka Fischer: "Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gegner." (Pfiffe, Buhrufe) "Geliebte Gegner!"(Zwischenrufe) "Ja, jetzt kommen die… Ich hab nur drauf gewartet: 'Kriegshetzer'! Hier spricht ein Kriegshetzer, und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor!" (Pfiffe und Applaus)

Außenminister Joschka Fischer auf dem Parteitag im Mai 1999, wenige Minuten nach der Attacke mit einem blutroten Farbbeutel. Wolfrum schreibt:

"Das Bild vom scheinbar blutüberströmten Außenminister ist schnell zu einer bundesdeutschen Ikone geworden. Symbolhafter und medienwirksamer hätte das Ganze gar nicht inszeniert werden können."

Zu den eindrucksvollsten Passagen des Buches zählt das Kapitel zum Irakkrieg und dem von Schröder postulierten "deutschen Weg" in der Außenpolitik. Hier wird eine kaum bekannte Seite der rot-grünen Regierungszeit beleuchtet. Wolfrum legt offen, wie Schröder über sein "Nein" zum Irakkrieg das Selbstverständnis verändert, mit dem die Deutschen als internationaler Bündnispartner auftreten.

Gerhard Schröder: "Wir, so sage ich, sind zur Solidarität bereit. Aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen, meine Damen und Herren."

Im Bundestag legt er nach:

"Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss", sagt Schröder. An anderer Stelle spricht er von einer

"Nation des wohlverstandenen Eigeninteresses"."

Ein neues Selbstbild der Deutschen
Leider ordnet Wolfrum diese Aussagen, die stark auf die heutige Europolitik ausstrahlen, historisch nicht ein. Man hätte gerne gewusst, wie genau Schröder dieses neue Selbstbild der Deutschen entwirft und wie es in jener Zeit gesellschaftlich wahrgenommen wird. Doch der Heidelberger Historiker bleibt vor allem Chronist. Das gilt im Übrigen auch für die Reformen des Peter Hartz.

Peter Hartz: ""Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland ... zwei Millionen Arbeitslose in drei Jahren … beginnend ab heute elf Uhr … dass wir das schaffen können."

Wolfrum schildert zwar sehr den wirtschaftlichen Kontext mit 4,8 Millionen Arbeitslosen und nur 0,2 Prozent Wachstum. Die gesellschaftlichen und politischen Implikationen aber bleiben im Ungefähren.

Dennoch ist das Buch eine insgesamt gelungene Darstellung der rot-grünen Regierungsjahre als umfassendes Reformprojekt, von dem bis heute nicht nur Hartz IV, sondern etwa auch die Ökosteuer, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und der Posten des Kulturstaatsministers geblieben sind.

Edgar Wolfrum: Rot Grün an der Macht, Deutschland 1998-2005
C.H. Beck Verlag, München 2013
848 Seiten, 24,95 Euro