"Die profitieren mächtig aus Konflikten"

Dzevad Karahasan im Gespräch mit Britta Bürger · 28.08.2012
Der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan sieht das ehemalige Jugoslawien in einem Zwiespalt zwischen den Mächtigen und dem Volk. Während die Bürger eine Sehnsucht nach Annäherung zueinander hätten, nutzten die "Mafiabosse, mit denen sich Westen sehr gut arrangiert hat" ihre Position, um Zwiespalt voranzutreiben - zugunsten ihrer eigenen Interessen.
Britta Bürger: Das multikulturelle Sarajewo ist einer der zentralen Orte in den Büchern des bosnischen Schriftstellers Dzevad Karahasan. Nach den Wirren des Krieges ist die Stadt jedoch nur noch einer von mehreren Wohnsitzen neben Graz und den vielen Hotels und Kurzzeitwohnungen, in denen sich der Erzähler und Dramatiker, Essayist und Dramaturg Dzevad Karahasan aufhält. Wir haben ihn heute früh in einem Hotel in Weimar erreicht, wo er jetzt zur Stunde mit der Goethemedaille ausgezeichnet wird, und ich habe ihn zunächst gefragt, was Goethe und Weimar für ihn bedeuten.

Dzevad Karahasan: Weimar bedeutet für mich leider nicht sehr viel, denn ich war nur zweimal in Weimar, je für ein paar Stunden. Goethe bedeutet für mich aber sehr viel, unsagbar viel, denn ich lese ihn seit meiner Gymnasialzeit. Er bedeutet für mich vor allem eine großartige Synthese. Denn wie alle wahren Klassiker bemühte sich Goethe um Balance zwischen verschiedenen Formen des Denkens, des Redens, des Schreibens. Er bedeutet für mich sehr viel als ganz wunderbarer Schriftsteller, dessen Literatur ich immer wieder mit viel Freude und Gewinn lesen kann. Er bedeutet für mich ein sozusagen vorbildhaftes Leben, in dem das Soziale und das Individuelle sehr gut zusammen passen.

Bürger: Wie haben Sie überhaupt zur deutschen Sprache gefunden?

Karahasan: Ehrlich gesagt, ich habe es eigentlich gar nicht gefunden. Die Sprache hat sich mir geoffenbart, denn ich habe schon in der Grundschule Goethe als Lektüre gehabt. Und im Nachhinein entdeckte ich Kleist, E.T.A. Hoffmann, Büchner, und dann entwickelte sich das Bedürfnis, diese Autoren sozusagen im Original zu lesen. Gleichzeitig begann aber die große Epoche der Gastarbeiterschaft. Unzählige Nachbarn von mir zogen nach Deutschland, als Gastarbeiter zu arbeiten, und so bekam die Sprache, die Kultur, das Land irgendwie in das alltägliche Leben. Es war einfach da.

Bürger: Das Goethe-Institut ehrt mit der Goethe-Medaille Künstler und Kulturschaffende, die für eine offene Aufarbeitung nationaler Traumata eintreten und auch gegenwärtige gesellschaftliche Schwierigkeiten thematisieren. Das haben Sie, Herr Karahasan, immer wieder getan mit Blick auf die Jugoslawienkriege, den Zerfall des Landes, die schwierige Aufarbeitung der Verbrechen, aber auch die Suche nach dem gemeinsamen Fundament der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Haben Sie den Eindruck, dass es, 17 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges, so etwas wie eine Sehnsucht der Menschen gibt aus dem zerfallenen Jugoslawien nach einer Wiederannäherung?

Karahasan: Gute Frage! Ich glaube, diese Sehnsucht hat sich schon vor Jahren gegeben. Aber unser Problem ist, dass die Mafiabosse, mit denen sich Westen sehr gut arrangiert hat, die sich für Nationalisten ausgeben, um durch die nationalistische Rhetorik ihre wahren Machenschaften zu vertuschen, zu verdecken. Ja, die profitieren mächtig aus Konflikten, Missverständnissen, sie versuchen, nur Unterschiede zu betonen, um das Gemeinsame zu vernichten, weil sie, wie gesagt, davon mächtig profitieren. Und sie lassen es nicht zu, dass man wieder in aller Ruhe eine gute Balance zwischen den Unterschieden und dem Gemeinsamen sucht und findet. Aber in den sogenannten einfachen Menschen ist diese Sehnsucht, behaupte ich, sehr tief und sehr stark.

Bürger: Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan, der heute in Weimar mit der Goethe-Medaille geehrt wird. In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist die Begeisterung für die EU mittlerweile auch verflogen. Die junge Generation empfindet die EU eher als bevormundend. Trägt auch das zu einer Rückbesinnung auf gemeinsame Wurzeln bei und möglicherweise auch dazu, gemeinsame Perspektiven zu entwickeln?

Karahasan: Ich glaube, zum Teil schon. Wobei ich sehr gern mit Ihrer Behauptung, die Begeisterung für die Europäische Union wäre kleiner, ein wenig polemisieren würde. Nein, es geht nicht um Bevormundung, es geht nicht um irgendeine Form der negativen Beziehung zur Europäischen Union. Es geht einfach um das Bewusstwerden aller Schwierigkeiten, die uns allen bevorstehen, bis wir Mitglieder der Europäischen Union sind. Es geht auch darum, dass die Europäische Union wieder einmal sozusagen nach eigener Identität sucht. Aber uns in Bosnien zum Beispiel ist vollkommen klar, dass die Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union einzig mögliche Lösung unserer aktuellen Probleme wäre, wenn nicht einzig mögliche, so auf jeden Fall die beste.

Bürger: Bosnien, haben Sie mal hier im Programm gesagt, ist kein politisches Projekt, es ist eine Lebensform, eine Schöpfung der Kultur. Zugleich waren aber Anfang des Jahres in Sarajewo die wichtigsten Kulturinstitutionen von der Schließung bedroht beziehungsweise bereits geschlossen worden. Das Landesmuseum, die Nationalgalerie, das Historische Museum, die Nationalbibliothek und noch viele weitere. Was ist aus all diesen bedrohten Institutionen geworden?

Karahasan: Eigentlich nichts. Denn das, was ich gesagt habe, stimmt auch. Bosnien war niemals ein politisches Projekt. Es gab keine politische Idee Bosniens. Ein Land mit vielen Völkern, das stets am Rande großer Imperien war, hat eine besondere Form des Lebens entwickelt, und so ist die bosnische Kultur, die bosnische Identität entstanden. Und Daytons Abkommen beziehungsweise seine Favoriten, die Kriminellen, die sich für Nationalisten ausgeben, kann einfach mit dieser wunderbaren, komplexen Tatsache wie die bosnische kulturelle Identität nichts anfangen.

Bürger: Das heißt, all diese Kulturinstitutionen sind tatsächlich geschlossen?

Karahasan: Nein. So wie es Bosnien gleichzeitig gibt und nicht gibt, gibt es auch diese Institutionen gleichzeitig schon und nicht mehr. Nach Daytons Abkommen ist Bosnien weder eine Monarchie noch eine Republik noch eine Oligarchie. Bosnien besteht aus zwei Staaten, die gleichzeitig Staaten und Teilstaaten sind. Also, Bosnien gibt es und gibt es nicht. So auch diese Institutionen. Sie, das nennt man in meiner Sprache "sladni progon", also sie existieren, produzieren aber nicht, arbeiten nicht. Die Angestellten kriegen gelegentlich ein Teilchen ihres Monatslohns, die Besucher gibt es aber keine. Die Bibliothek hat keine Leser, darf keine Bücher ausleihen und so weiter und so fort. Also wieder eine Mischlösung, weder Fleisch noch Fisch.

Bürger: Was bedeutet es für die Menschen, wenn sie keinen Zugang mehr zu den Kulturschätzen ihrer Vorfahren haben?

Karahasan: Das bedeutet eine große, riesige Katastrophe. Denn nachdem die Nationalbibliothek verbrannt wurde, vernichtet wurde, und das geschah am 25. August 1992, also am Samstag jährt es sich zum 20. Mal, der Tag der Vernichtung unserer Bibliothek. Nachdem die Schätze des Museums stark beschädigt wurden, nach all dem jetzt an dem Gebäude der Bibliothek vorbeizugehen, ohne Möglichkeit, Bücher auszuleihen, das ist eine Katastrophe, das ist eine absolute Bedrohung der Erinnerungskultur, der kulturellen Identität - unsagbar.

Bürger: Herr Karahasan, woran schreiben Sie zurzeit?

Karahasan: Ich schreibe jetzt an einem Roman oder an einer Romantrilogie über den großen persischen Mathematiker, Dichter, Astronom, Arzt Omar Khayam. Kayam lebte in einer Zeit lauter Fundamentalismen und war dabei ein großer Skeptiker. Also wahrscheinlich habe ich deshalb in ihm sozusagen unsere Zeit wiedererkannt und versuche, mein Leben, meine Zeit, meine existenzielle Situation durch ihn zu verstehen.

Bürger: Dzevad Karahasan, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!

Karahasan: Ich danke auch!

Bürger: Zur Stunde wird der bosnische Schriftsteller in Weimar mit der Goethe-Medaille geehrt, deshalb haben wir das Gespräch heute früh aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Preisträger der Goethe-Medaille 2012: der bosnische Autor Dzevad Karahasan, die litauische Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Irena Veisaite und der kasachische Theaterregisseur Bolat Atabajew.
Die Preisträger der Goethe-Medaille 2012: der bosnische Autor Dzevad Karahasan, die litauische Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Irena Veisaite und der kasachische Theaterregisseur Bolat Atabajew.© picture alliance / dpa /Martin Schutt
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