Die Poesie des dementen Vaters

07.02.2011
Arno Geiger erzählt von der Demenzerkrankung seines Vaters. Im Mittelpunkt stehen konkrete Situationen, in denen sich die Krankheit zeigt, sowie Sätze, die der Vater sagt und die der Erzähler oft als poetisch empfindet. Die Szenen, in denen der Vater die einfachsten Sachen durcheinanderbringt, werden in ihren Möglichkeiten zwischen tiefstem Schrecken und absurder Komik gezeigt: Einmal etwa geht der Vater zum Fernseher und will dem Nachrichtensprecher etwas von den Weihnachtskeksen anbieten.
Der Autor streut in diese konkreten Schilderungen viele allgemeine Erklärungen und Reflexionen ein. Vom früheren Familienleben, von der Trennung von Vater und Mutter nach 30 Jahren Ehe erfährt der Leser kaum etwas, manche Informationen werden nur wie nebenbei gegeben. Auf den letzten Seiten etwa liest man kurz etwas vom Freitod dreier Patenkinder des Vaters, das "nur schwer zu verarbeitende Familienunglück, das nicht aufhört, auf allen zu lasten". Es spielt aber auf den 180 Seiten davor keine Rolle. Es ist ein Problem, das Geiger beim Schreiben dieses Buches bewusst ist: die Familienmitglieder leben, also werden die Konflikte und Probleme, die sie betreffen, weitgehend ausgespart. Er konzentriert sich auf seine Gefühle im Umgang mit der Demenz des Vaters, auf seine Beobachtungen. Es geht um ein Thema, das von vornherein eine große Wirkung hat, da gibt es nicht viel hinzuzusetzen und auszuschmücken. In einzelnen Szenen tritt das Ausweglose, aber gleichzeitig die enge emotionale Bindung eindringlich vor Augen.

Das zentrale Trauma des Vaters ist ein vierwöchiger Aufenthalt in einem Lazarett bei Bratislava nach Kriegsende, als er zwischen Leben und Tod schwebte. Dass es das Beste sei, "heimzukommen", "zuhause" zu sein, wird zu seiner grundlegenden Lebensphilosophie. Dies wird an einigen Stellen umkreist. Einmal erfährt man auch etwas Näheres von der früheren Beziehung des Vaters zum Sohn: Er habe ihn nie "ins Gebet genommen", "nie Ratschläge erteilt", "sein bevorzugtes Metier waren Bemerkungen über das Wetter und die Bewegungen in der Landschaft".

Es wird in diesem Buch also vieles ausgespart. Die Bewegungrichtung dieses Schreibens ist ein Unterlaufen. Alles Direkte wird vermieden. Dafür zieht Arno Geiger eine Metaebene ein: Er zitiert viele Schriftsteller, Thomas Bernhards Protagonisten in "Frost" etwa mit der Bemerkung "Mir ist alles unverständlich", was mit der Selbstwahrnehmung des Vaters korrespondiert. Diese Schriftstellerebene, mit Kundera, Proust, Kafka oder Thomas Hardy, auf der sich Arno Geiger auch selbst thematisiert, scheint das geheime Movens des Buches zu sein. Einmal schreibt er, dass der Umgang mit dem Vater ihn nicht nur erschöpfe – er ließe ihn auch "immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit" zurück. Davon zeugt der Text – allerdings auch dies indirekt.

Besprochen von Helmut Böttiger

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Carl Hanser Verlag, München 2011, 188 Seiten, 17,90 Euro