Die Philosophie der Mode

31.10.2012
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich Soziologen und Philosophen mit der Frage "Was ist Mode?". Die Kulturwissenschaftlerin Sonja Eismann hat nun ein Kompendium an Grundlagentexten zusammengestellt und mit kenntnisreichen Einleitungen versehen.
"Der Titel dieses Vortrags ist kein Scherz", entschuldigte sich 1974 der französische Soziologe Pierre Bourdieu, als er zu einer wissenschaftlichen Analyse des Zusammenhangs von Haute Couture und Hochkultur ansetzte. Im Wissenschaftsbetrieb galt Mode als "unwürdiges Objekt", das Millionengeschäft erschien einer theoretischen Auseinandersetzung nicht angemessen.

Trotzdem haben sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Forscher, Kulturwissenschaftler, Soziologen und Modedesigner zu Wort gemeldet, um eine Antwort auf die Frage "Was ist Mode?" zu geben. Das Buch "absolute Fashion" versammelt jetzt zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum Auszüge von Grundlagentexten von 1853 bis heute, in denen Theorien der Mode formuliert werden.

Die Kulturwissenschaftlerin Sonja Eismann gruppiert diese Texte in vier Kapiteln, denen sie Essays über die historischen Kontexte der Modediskurse voranstellt.

Der älteste Text "Kleidungsreform" (1853) stammt von der amerikanischen Feministin Amelia Bloomer. Um Frauen mehr Bewegungsfreiheit und eine größere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, sprach sie sich für eine weibliche Garderobe aus, die sowohl auf das Korsett als auch auf die bis zu sieben Kilogramm schwere Unterwäsche verzichtete. Ein Skandal für die damalige Zeit.

Bloomers Plädoyer findet sich im Kapitel "Utopie" über historische Modekonzepte, die durch Kleidung das Leben der Menschen direkt beeinflussen und verändern wollten - von der weiblichen "Reformkleidung" des 19. Jahrhunderts über die "Arbeitskleidung" sowjetischer Konstruktivistinnen bis zur fair gehandelten "ethical fashion" von heute.

In den anderen drei Kapiteln wird Mode als Ausdruck einer gesellschaftlichen "Klasse", dem Bedürfnis nach "Distinktion" und dem Potenzial der modischen "Abweichung" untersucht. Darin stellt Sonja Eismann etwa Georg Simmels berühmte These aus dessen "Philosophie der Mode" vor, nach der die "unteren Klassen" stets den Modestil der "oberen Klassen" nachahmen. Sobald ein Stil übernommen werde, suche die Oberklasse nach neuen Kleidern, um erneut die Klassendifferenz zu markieren.

Der Semiotiker Roland Barthes interpretiert dagegen in seinem Text "Die Sprache der Mode" Kleidung als paradoxes "Zeichensystem", in dem Mode zugleich das Bedürfnis nach Individualität als auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe markiert.

Sonja Eismanns Buch ist Teil der Sachbuch-Reihe "absolute" des "orange press" -Verlags, in der Schlüsseldiskurse des 20. und 21. Jahrhunderts vorgestellt werden.

Die kurzen, auf ihren Kern reduzierten Auszüge historischer Basistexte geben einen fundierten Einblick in die Modediskurse ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. In Kombination mit Eismanns präzisen, gut lesbaren Einführungstexten zeigt der Band, wie gut sich über "Geschmack" streiten lässt: Denn Mode ist als Alltagsgegenstand, Ausdruck von Klassenunterschieden, als identifikatorisches Angebot oder politisches Ausdrucksmittel für Subkulturen aus den Diskursen des 21. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken. Eine lesenswerte Einführung in die unterschätzte Modewissenschaft.

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Sonja Eismann (Hg.): absolute Fashion
Orange Press, Freiburg 2012
221 Seiten, 18 Euro