"Die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung"

Stefan Greß im Gespräch mit Nana Brink · 03.11.2011
Der Gesundheitsökonom Stefan Greß rechnet damit, dass sich die Regierungskoalition bei der Pflegeversicherung ähnlich wie bei der Krankenversicherung auf einen moderaten Anstieg der einkommensabhängigen Beiträge einigt.
Nana Brink: Und am Telefon ist jetzt ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Pflege in Deutschland, der Gesundheitsökonom Stefan Greß, der als Professor an der Uni Fulda darüber forscht, wie die Pflege künftig aussehen muss. Schönen guten Morgen, Herr Greß!

Stefan Greß: Einen schönen guten Morgen!

Brink: Was ist denn aus Ihrer Sicht aus dem Jahr der Pflege geworden?

Greß: Na, bisher noch nicht sehr viel. Der ehemalige Gesundheitsminister ist durch die Lande gezogen im Verlaufe des Jahres und hat die Wünsche eingesammelt von den Verbänden, von den Interessengruppen, hat sich aber erst zu spät Gedanken darüber gemacht, wie diese Wünsche finanziert werden sollen. Und wie wir eben in dem Beitrag gehört haben, gibt es da keinerlei Einigkeit in der Koalition darüber. Das heißt, es wurden große Erwartungen geweckt, und bisher – daher sicher auch dieser Weckruf der Pflege – wurden diese Erwartungen enttäuscht.

Brink: Wo muss denn die Pflege in Deutschland Ihrer Meinung nach reformiert werden. Wo ist am meisten Handlungsbedarf.

Greß: Der größte Handlungsbedarf besteht sicherlich in der Neudefinition des sogenannten Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Der wichtigste Aspekt hier ist sicherlich, dass auch Demenzkranke und deren Angehörige besser unterstützt werden durch die Pflegeversicherung. Die fallen bisher in der Regel nicht in die Kategorien, die in der Pflegeversicherung definiert werden. Das ist sicherlich der wichtigste Aspekt. Der Finanzierungsaspekt hängt natürlich auch damit zusammen, dass langfristig die Pflegeversicherung solide finanziert werden muss, aber natürlich muss auch dafür gesorgt werden, dass die Leistungen nicht entwertet werden, beispielsweise durch Inflation. Auch da besteht weiterhin Handlungsbedarf.

Brink: Wie muss denn Ihrer Meinung nach die Finanzierung aussehen, die Beteiligung der Versicherten? Da gibt es ja einen prinzipiellen Streit, also es gibt zwei komplett unterschiedliche Philosophien: Eigenbeteiligung oder Gesamtverantwortung, wie sehen Sie das?

Greß: Ja, grundsätzlich ist ja die Pflegeversicherung nicht als Vollversicherungsschutz konzipiert worden damals bei der Gründung. Das ist wie bei anderen Sozialversicherungen auch, man hat ein bisschen kleiner angefangen, und hat dann versucht, via Krankenversicherung deshalb diese Sozialversicherungssysteme nach und nach auszubauen.

Brink: Also die Pflegeversicherung sollte keine Vollkaskoversicherung sein.

Greß: Genau, genau. Das war schon damals das Konzept bei der Einführung, das war sicherlich auch Grundlage dafür, dass es überhaupt eine politische Mehrheit dafür gab. Das heißt, die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung, ist sie nie gewesen. Aber das Problem, das ich eben schon kurz angesprochen habe, dass auch der Versicherungsschutz nach und nach entwertet wurde, weil es keine Anpassung der Leistung an die Preisentwicklung gegeben hat, so dass die Versicherten jetzt merken, ihr Versicherungsschutz, den sie da haben, der ist weniger wert als noch bei Gründung der Pflegeversicherung in den 90er-Jahren.

Brink: Wie kann man denn da gegensteuern?

Greß: Na ja, es ist jetzt: Die Große Koalition hat 2008 beschlossen, dass ab 2015 regelmäßig eine entsprechende Anpassung erfolgen soll, aber auch ohne Regelbindung, also es wird nicht jetzt beispielsweise an die Entwicklung der Wirtschaftskraft gebunden. Das heißt, da müsste eigentlich eine regelmäßige Anpassung beispielsweise an die Entwicklung der Wirtschaftskraft oder der Inflation rein. Das würde verhindern, dass dieser Teilkasko-Schutz, der es ja ist, nach und nach entwertet wird, und gleichzeitig müssten Lücken geschlossen werden, wie beispielsweise bei den Demenzkranken, das kostet aber natürlich Geld.

Brink: Wer soll das bezahlen, sozusagen die Gemeinschaft?

Greß: Ja, das ist eine grundsätzliche Entscheidung, die getroffen werden muss, da tut sich die Koalition ja sehr schwer, letztendlich ist es eine ähnliche Frage wie in der Krankenversicherung, ja? Also es gibt diejenigen, die sagen, wir brauchen eine Beteiligung aller, nicht nur derjenigen, die in einer gesetzlichen Pflegeversicherung versichert sind, sondern auch derjenigen, die in einer privaten Pflegeversicherung versichert sind. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung von einkommensstarken Versicherten, die ja jetzt ab der Beitragsbemessungsgrenze keine zusätzlichen Beiträge bezahlen, und wir brauchen eine stärkere Beteiligung von Kapitaleinkommen, das ist die eine Seite. Die andere Seite sagt, das ist alles viel zu kompliziert, wir wollen eine kapitalgedeckte Vorsorge wie die FDP das sagt, individuell und privat. Und da ist aber natürlich das Problem, dass eben Einkommensschwache besonders stark belastet werden, und da braucht man dann wieder einen steuerfinanzierten Ausgleich, um die wieder zu entlasten. Das ist natürlich sehr kompliziert.

Brink: Und was meinen Sie, welche Seite hat recht?

Greß: Ich halte eher die Variante für zielführend, dass wir sagen, wir bauen das derzeitige Beitragssystem, das umlagefinanzierte System aus, machen es finanziell nachhaltiger, beispielsweise durch die Heranziehung von weit einkommenhöherer Einkommensgruppen, durch die Heranziehung der Privatpflegeversicherten, als dass wir jetzt in einen Systemwechsel einsteigen. Systemwechsel hin zu Kapitaldeckung, nach den Erfahrungen der letzten Jahre halte ich es für sehr gefährlich, auch Sozialversicherungen von Kapitalmärkten abhängig zu machen. Dazu sind dann höhere Bürokratiekosten mit verbunden, und auch der Systemwechsel hin zu einer Steuerfinanzierung, wie es die CSU ja vorschlägt, halte ich auch für gefährlich, weil die Steuerfinanzierung in den nächsten Jahren durchaus wackelig sein kann, weil: es gibt die Schuldenbremse, es gibt Anforderungen im Zusammenhang mit der Stabilisierung des Euro – ich glaube nicht, das da noch viel Geld für die Pflege über ist.

Brink: Es wird ja gern mit Zahlen argumentiert bei diesem Thema. Ein Anstieg von 3,5 Millionen Pflegebedürftiger, also ein Anstieg auf 3,5 in 20 Jahren wird prognostiziert. Kann man den Zahlen trauen? Woher weiß man denn, wer in 20 Jahren wirklich pflegebedürftig ist?

Greß: Na ja, das Problem an Prognosen ist natürlich, dass sie unsicher sind. Natürlich sind das alles Schätzungen, wichtig dabei ist zu wissen: Wenn die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt, dann heißt das nicht automatisch, dass dann die Kosten im gleichen Umfang steigen. Also wir wissen, dass auch ein längeres Leben nicht automatisch zu höherer Pflegeintensität führt. Da zeigt sich, dass es auch ein längeres, gesundes Leben gibt, und auch die Pflegedauer nicht unbedingt im gleichen Maße ansteigt. Da wird dann teilweise auch mit Zahlen operiert, um dann ein bisschen dramatische Szenarien zu beschreiben, das muss man ein bisschen differenzierter sehen.

Brink: Letzte Frage: Am Sonntag treffen sich ja die Koalitionsspitzen im Kanzleramt. Erwarten Sie da eine Einigung?

Greß: Natürlich müssen sie sich irgendwann einigen, es besteht hoher Handlungsdruck. In der Presse wird ja schon darüber spekuliert, dass der Gesundheitsminister deswegen stolpern könnte. Deswegen denke ich, dass die Koalition sich hier einigen wird, aber rauskommen wird meiner Ansicht nach keine grundlegende Reform der Finanzierung. Ähnlich wie in der Krankenversicherung wird man sich auf einen moderaten Anstieg der einkommensabhängigen Beiträge einigen, vielleicht die Krankenversicherungen noch belasten und vielleicht noch einen kleinen Steuerzuschuss dazu tun, um das Thema vom Tisch zu bekommen.

Brink: Professor Stefan Greß, Leiter des Fachgebiets Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie an der Uni Fulda. Schönen Dank, Herr Greß, für das Gespräch!

Greß: Gerne!

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