Die Papierlose

08.08.2012
Die Tunesierin Ines will um jeden Preis zu ihrem Kind nach Berlin. Das hat der Vater wenige Tage nach der Geburt mitgenommen. Auf der Reise dorthin wird sie von einem Menschenhändler ins Meer geworfen, muss sich prostituieren und wird in jeder anderen erdenklichen Weise erniedrigt.
Am 31. Juli 2006 erlangte ein Pressebild traurige Berühmtheit: Eine Touristin im Bikini flößt Wasser in den Mund eines schwarzafrikanischen Flüchtlings, der soeben völlig erschöpft die Kanaren-Insel Teneriffa erreicht hat. Der Strom der Flüchtlinge, die alle Gefahren, ja oftmals selbst den Tod in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangen, reißt bis heute nicht ab.

Europa schaut nicht nur zu, sondern auch weg – indem es die Grenzen stetig dichter macht. Auch die junge Afrikanerin Ines – sie ist "Die Frau im blauen Mantel" – schafft es eines Tages mit letzter Kraft, sich an den Strand von Sizilien zu retten. Der Menschenhändler, in dessen Boot sie von Tunesien aus nach Europa übersetzte, warf seine ‚Fracht’ wenige Kilometer vor der Küste kurzerhand über Bord.

Für Ines ist dies nicht der erste – und nicht der letzte Moment von Demütigung, Erniedrigung und Ausbeutung auf ihrer Reise von Tunesien ¬ – wo sie drei Jahre in einem Hotel gearbeitet hat – nach Berlin. Dort nämlich lebt ihr Kind, das der Vater – ein Deutscher, in den sie sich in dem Hotel verliebt hatte – wenige Tage nach der Geburt nach Deutschland mitgenommen hat.

Was die junge Frau auf dieser langen Reise erlebt – davon erzählt Lloyd Jones in erschreckend plastischen Szenen: Wie sie sich verkaufen muss, auch sexuell, um ihr Ziel zu erreichen. Wie sie als Freiwild gilt, nur weil sie schwarz, eine Frau und illegal ist. Aber auch, wie ihr geholfen wird – und wie sie noch diejenigen, die ihr helfen, schamlos zu belügen und bestehlen scheint.

Scheint – denn Lloyd schildert Ines’ Geschichte nicht nur aus der Rückschau, als sie des Mordes verdächtig in Italien im Gefängnis sitzt. Er entfaltet das Geschehen vor allem multiperspektivisch gebrochen: Zuerst lässt er all jene zu Wort kommen, denen Ines auf ihrer Reise begegnet ist – unter anderem ein Lastwagenfahrer, eine Gruppe von Jägern, ein Straßenkünstler, eine Dokumentarfilmerin. Erst ganz am Ende des Romans gibt Ines ihre Version der Geschichte zum Besten. Der Effekt ist verblüffend: Wie ein Mosaik fügen sich zwar die einzelnen Teile über die Identität dieser Frau langsam aber sicher zusammen – aber es wird klar, dass es keine alleingültige Wahrheit gibt.

Lloyd, der dem Personal entsprechend den lyrischen Ton ebenso beherrscht wie den Jargon, spiegelt somit schon in der dossierartigen Form seines Romans das Grunddilemma der Papierlosen: Sie sind, was wir in ihnen sehen wollen. Seine Hauptfigur begehrt dagegen mit ungeheurer Kraft auf. Um ihr Kind wieder zu bekommen, wird sie zwangsweise eine Frau ohne ‚Herz und Gewissen’, wie es an einer Stelle heißt.

Wie nebenbei aber entlarvt Lloyd zugleich den herzlosen Umgang der westlichen Welt mit Flüchtlingen wie Ines: unsere kalten Vorurteile, unsere kleinliche Angst. Die Dokumentarfilmerin, die in Berlin einen Film über die ausgegrenzten Roma-Frauen dreht, wird Ines zwar in ihre Wohnung mitnehmen, sie aber wenige Tage später einem afrikanischen Flüchtlingszentrum überreichen – erleichtert, die Verantwortung los zu sein.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Lloyd Jones: "Die Frau im blauen Mantel"
Aus dem Englischen von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag, Reinsberg 2012
319 Seiten, 19,95 Euro
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