Die Odyssee eines Unglücksraben

Von Pieke Biermann · 02.02.2011
Wenn einen schon der eigene Autor nicht ernst nimmt und Widerworte gibt, dann kann man sich als Romanheld schon einmal leid tun. Maxwell Sim ist so ein Typ - und sein Leben ist nun wirklich nicht das Gelbe vom Ei.
Europa hat in jeder Epoche seine literarischen Unglücksraben gezeugt. Von gnadenlosen Zeitläufen durch die Welt gedroschene Antihelden, die dann zusehen können, wie sie durchkommen. In den schönsten Fällen tun sie es mit pikaresken Mitteln, lassen keine Peinlichkeit aus, machen dabei aber kostbare Selbst- wie Welterfahrungen.

So auch Maxwell Sim. Sein Autor Jonathan Coe hat über Fieldings "Tom Jones" promoviert und seine Figur überaus raffiniert als prototypischen Unglücksraben des 21. Jahrhunderts angelegt. Am Valentinstag 2009 sitzt Max in einem Restaurant in Sydney und schmachtet eine Chinesin samt Tochter an. Genauer: deren unübersehbar liebevolle Nähe. 48 ist er, "Beauftragter für Nachkaufbetreuung" in einem Londoner Kaufhaus und vor einem halben Jahr von Gattin samt Tochter schnöde verlassen worden. Seitdem schwelgt die Depression in ihm. Um die halbe Welt ist er gereist, in der vagen Hoffnung, die abgerissene Verbindung zu seinem Vater könnte doch existieren. Der war nach dem Tod der Mutter nach Australien abgehauen. Aber auch diese Hoffnung geht hier down under, der Vater erweist sich als wandelndes Kommunikationsdefizit.

Max ist nicht auf den Mund gefallen. Ein Durchschnittstyp, der mit ödem Gelaber seinen Sitznachbarn beim Rückflug nach England buchstäblich zu Tode langweilt und es nicht mal merkt. Einer, der sich nicht genieren würde, eine Frau ins Bett zu heulen, denn für Verführung fehlt ihm jede emotionale Intelligenz. Was er spürt, ist seine Einsamkeit. Als er nach Hause kommt und von den 137 Emails 136 Werbespam für Potenzhilfen aller Art sind, als keiner seiner 70 Facebook-"Freunde" ihm etwas gepostet hat, dämmert ihm, dass sein ganzes Leben nicht das Gelbe vom Ei ist: Und genau damit wird er sich ab sofort bekleckern. Sein einziger nicht-virtueller Freund vermittelt ihm einen absurden Job - Promotion für biologisch abbaubare Holzzahnbürsten im äußersten Norden der Insel.

Die Fahrt dahin ist eine Odyssee durch Melancholie und Murphy's Law im Zeitalter der technischen ständigen Erreichbarkeit. Was schief gehen kann, geht schief. Was Max nie wissen wollte - Familiengeheimnisse etwa oder was seine Ex wirklich von ihm hält -, drängt sich auf. Zu allem Überfluss verknallt er sich ausgerechnet in sein Navi, das er Emma tauft. Aber Emma hört partout nicht zu. Er wähnt sich als Doppelgänger des tragischen Einhandseglers Donald Crowhurst, der 1968 auf dem Ozean verschwunden und in seiner Kabine irre geworden war. Und natürlich kommt Max nie auf den Shetlands an. Er endet auf halbem Weg in seinem Toyota Prius, sturzbesoffen, delirierend und - buchstäblich nackt.

Coe ist ein spritziger, cleverer Satiriker, sein Roman wimmelt von herrlich bösen, komischen Einfällen. Es gibt - wunderbar eingedeutschte - geniale Dialoge, irrwitzige Twists, plausible Figuren, sogar eine verbale Keilerei zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Autor. Man verschlingt das alles mit Vergnügen und wird doch ein Gefühl nicht los: Es ist einen Tick zu clever, zu geschliffen für einen rauen Schelmenroman.

Besprochen von Pieke Biermann

Jonathan Coe: Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Roman. Aus dem Englischen von Walter Ahlers
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010
416 Seiten, geb., 22,99 Euro
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