"Die Nerven"

Den Tag vergessen, nicht die Haltung

Die Mitglieder der Band "Die Nerven" im Deutschlandradio Kultur
Die Band "Die Nerven" im Deutschlandradio Kultur © Deutschlandradio / Matthias Horn
Von Dirk Schneider · 07.10.2015
In Esslingen bei Stuttgart hat sich 2010 die Band "Die Nerven" gegründet. Ein gut gewählter Name, der Rebellion verspricht. Auch die Musik in guter alter Rockbesetzung Gitarre, Bass und Schlagzeug macht Druck, die Texte dazu sind alles andere als gegenwartsbejahend.
Musik: "Die Unschuld in Person" (Text: "Du erkennst mich schon von weitem, ich trage nichts bei mir / Keinen Ausweis, keine Schlüssel, denn ich will nichts verliern")
Identität ist ein Thema, das bei der Band Die Nerven immer wieder auftaucht. Vielleicht hat das auch mit ihrer Rezeptionsgeschichte zu tun. Seit ihrem ersten Album aus dem Jahr 2012 wurde immer wieder versucht, dieser wütenden Musik eine Haltung zuzuschreiben, hat die Musikpresse gehofft, in diesem Trio die Vertreter einer Jugendbewegung zu finden. Songtitel wie "Jugend ohne Geld", "iPhone" oder "Dreck" versprechen auch auf dem neuen Album mit dem Titel "Out" wieder eine Bestandsaufnahme dessen, was es heißt, 2015 in Deutschland jung zu sein.
Musik: "Jugend ohne Geld"
Namhafte Verehrer über Deutschland hinaus
Ein Statement zu irgendeinem Stand der Dinge abseits von der Band und ihrer Musik wird man von Den Nerven allerdings nicht bekommen. Das ist Strategie, wie Bassist Julian zugibt:
"Aber wenn wir nicht so viel vorgeben, was auf uns projiziert werden soll, dann ist ja das Feld noch viel größer. Dann können die Leute ja alles in uns sehen. Es ist immer wieder interessant, was dann plötzlich wieder so auftaucht."
Oder auch, wer so auftaucht: Die Nerven haben inzwischen namhafte Verehrer über Deutschland hinaus: John Bramwell, Sänger der Glasgower Band I Am Kloot, kam nach einem Auftritt der Nerven ganz aufgeregt hinter die Bühne, erzählt Gitarrist Max Rieger:
"Ich wusste zuerst nicht, wer er ist. Er ist so ein kleiner, lustiger Typ und er kam zu dem Konzert und dann hat er mir quasi ins Gesicht geschrien "Oh my god this was so fuk-king a-ma-zing!" Und ich dachte, er verarscht mich, aber er hat es superernst gemeint und er ist auch nicht mehr von dem Trip runtergekommen. Er fand's einfach so richtig, richtig geil."
Musik: "Den Tag vergessen"
Klar sind die drei Mittzwanziger konsterniert, wenn andere ihnen ihre Begeisterung ins Gesicht schreien. Sie finden ihre Musik ja selber toll, doch was sie in der Welt auslöst, können sie selbst nur schwer ermessen. Ein kleiner Sturm ist es schon, den Die Nerven da entfacht haben.
Julian Knoth: "Schon nachdem unser erstes Album rausgekommen ist, hat es eigentlich angefangen zu winden, sag ich mal. Es ist dann eigentlich eher wichtig, es wieder nicht so wichtig zu nehmen. Ja, und einfach weiterzumachen und Musik zu machen."
Max Rieger: "Ja, irgendwie damit umzugehen. Natürlich gibt es diesen Sturm, aber dann geht es am Schluss wieder darum, diesen Sturm wieder zu vergessen. Und sich zu besinnen."
Nervös wirken Die Nerven tatsächlich kein bisschen. Sie haben Spaß an dem Wind, der um sie gemacht wird, und lassen darin ihre Bedeutungs-Drachen steigen. Zum Beispiel mit dem Cover des neuen Albums: Zwei Hände vor himmelblauem Hintergrund, die eine überreicht der anderen einen metallenen schwarzen Gegenstand, der an ein Smartphone oder eine Festplatte erinnert. Assoziationen von Michelangelos "Die Erschaffung Adams" bis Stanley Kubricks "2001" stellen sich schnell ein.
Max Rieger: "Am Anfang war so der Gedanke, wie beim Staffellauf, der Moment der Übergabe. Das ging darum, einfach in dieses Bild so viel wie möglich reinzupacken und irgendwie dann auch wieder nichts."
Julian Knoth: "Ja, irgendwie so ein starkes Bild zu generieren, was aber dann bedeutungsoffen ist."
Musik: "iPhone"
Die eigene Identität im Unklaren lassen
Trotz Songtiteln wie "iPhone" klingt die Musik der Nerven ganz analog. Als hätte sie auch vor 20 Jahren entstanden sein können, ohne all die Einflüsse des Internets, ohne Produktionssoftware. Beim ersten Hören meint man, diese Musik schon von früher zu kennen, Anleihen von Joy Division über Punkrock bis zu Blumfeld herauszuhören. Doch macht man sich dann auf die Suche nach einer Band, die klingt wie Die Nerven, stellt man schnell fest, dass die Stuttgarter einen sehr eigenen Stil haben.
Max Rieger: "Also es soll nicht alles Zitat sein, sondern wir machen das halt, und wir müssen damit umgehen, dass wir diese Musik heutzutage machen, im Jahr 2015, und halt nicht vor 35 Jahren. (...) Ich sage immer gerne, es soll nicht neben Joy Division stehen, sondern neben Samy Deluxe, die Platte."
Musik: "Wüste"
Die starken Stücke auf "Out" stehen am Anfang, gegen Ende wirkt das Album ein bisschen schwach auf der Brust. Dann zeigt sich, dass diese Musik dann wirklich groß ist, wenn Sound und Text sich gegenseitig hochschaukeln – textlich wird es gegen Ende etwas mager, und die Musik wirkt dann redundant. So wütend, wie oft geschrieben wird, sind Die Nerven übrigens gar nicht:
Max Rieger: "Ich glaube, wir sind nur wütend, wenn wir missverstanden werden."
Kevin Kuhn: "Oder früh aufstehen müssen."
Julian Knoth: "Ich glaube, wir sind eher eine Band, die eine bestimmte Art von Haltung hat. Aber da wissen wir selbst gar nicht, was diese Haltung ist."
Ist das jetzt kokett, oder wieder nur der Versuch, die eigenen Spuren zu verwischen? Oder ist es, viel banaler, ganz einfach Naivität? Die Nerven sind jedenfalls sehr gut darin, die eigene Identität im Unklaren zu lassen. Und am Ende ist das doch der rebellischste Akt, den man wagen kann – in einer Zeit, in der es einem aus allen Ecken anbrüllt, man sei ein Niemand, wenn man sich nicht selbst zur Marke macht.
Musik: "Die Unschuld in Person" (Text: "Wenn du denkst, ich sei es, dann bin ich's sicher nicht")
Mehr zum Thema