"Die NATO hat die russische politische Psychologie nicht so gut verstanden"

18.05.2012
Der Brigadegeneral a.D. und NATO-Experte, Klaus Wittmann, hat das Militärbündnis aufgefordert, weiter auf Russland zuzugehen. Russland müsse selbst zu einer neuen Rolle in der europäischen Sicherheitspolitik finden, sagte Wittmann.
Gabi Wuttke: Wie ist die Welt wieder zu stabilisieren? Die G7 beraten darüber heute und morgen in Camp David. Dann folgt nahtlos der Gipfel der NATO-Staaten, Partner seit über 60 Jahren. Aber wie eng steht man noch zusammen? Wo hat sich das transatlantische Militärbündnis verzettelt und wie offen wagt es einen Blick in die Zukunft? Viele Fragen an Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann, der viele Jahre im NATO-Hauptquartier gearbeitet hat und heute Senior Fellow beim Aspen Institut Deutschland ist. Um 6:50 Uhr begrüße ich ihn am Telefon, schönen guten Morgen!

Klaus Wittmann: Guten Morgen!

Wuttke: Die Frage, ob die NATO noch zu retten sei, findet Verteidigungsminister de Maizière nur provokant, für seinen Vorgänger Volker Rühe ist sie berechtigt, wenn auch besorgniserregend, und für Sie?

Wittmann: Ich finde sie nicht provokant, aber ich finde sie etwas alarmistisch und dramatisierend. Die wurde übrigens schon 1990 gestellt, als ich Referatsleiter Strategische Planung im NATO-Hauptquartier war. Da war ja der NATO der Gegner abhanden gekommen, und viele meinten, sie hätte nur noch zu melden, Auftrag ausgeführt und als Opfer des eigenen Erfolgs abzutreten. Die NATO hat sich dann stärker gewandelt und an neue Verhältnisse angepasst als jede Organisation. Sie ist weiterhin die Klammer zwischen Nordamerika und Europa, Garant unser aller Sicherheit, die einzige Sicherheitsorganisation mit Zähnen sozusagen, aber sie steht natürlich vor Problemen, die bewältigt werden müssen und über die wir ja sicher gleich noch reden.

Wuttke: Aber worin besteht der Wandel, den Sie meinen? Angesichts der großen Herausforderung sehen viele eher, dass die NATO den Herausforderungen nicht gewachsen ist und sich also nicht genug gewandelt hat.

Wittmann: Doch, sie hat sich auch für neue Sicherheitsgefährdungen, die heute anders als die Bedrohung durch den Sowjet-geführten Warschauer Pakt natürlich viel diffuser sind, eingestellt. Sie hat beispielsweise auf dem Balkan die Kriege beendet, sie hat in Afghanistan eine große Rolle gespielt, wenn auch dort sie nicht der alleinige Akteur ist, und sie hat natürlich das Problem, dass die Gefährdungen heutzutage nicht mehr so existenziell sind wie die damalige im Kalten Krieg. Die Partner sind unterschiedlich betroffen, es ist schwieriger, Konsens herzustellen, aber die NATO erfüllt heute immer noch drei Aufgaben: den Schutz des NATO-Gebiets, die Weiterentwicklung eines Europe Whole and Free, also einigen und freien Europas, einschließlich der Sicherheitssektorreform in den Ländern besonders Mittel- und Osteuropas und zunehmend auch auf dem Balkan, und ein Beitrag zur Bewältigung globaler Herausforderungen, wo die NATO natürlich immer nur einen Beitrag leisten kann, weil viele der Sicherheitsgefährdungen nicht unbedingt militärischer Natur sind.

Wuttke: Bleiben wir bei Ihrem Stichwort Konsens unter Partnern. Was ist denn für Sie das größere Problem – dass die USA sich dem Pazifikraum verstärkt zuwenden oder die NATO immer noch kein konstruktives Verhältnis zu Russland aufgebaut hat?

Wittmann: Ja, fangen wir mit dem Ersten an, USA-Orientierung zum Pazifik: Das ist völlig normal. Die USA sind die globale Ordnungsmacht, der Aufstieg Chinas ist zu beobachten, und Europa ist weitgehend befriedet. Aber das bedeutet keine Abwendung von der NATO. Allerdings bedeutet die Ausrufung des pazifischen Jahrhunderts durch die USA, dass die Europäer in NATO und U… äh… und Europäischer Union mehr Verantwortung für die Sicherheit des eigenen Kontinents und seiner Peripherie tragen müssen, und da hapert es – ganz besonders angesichts der sinkenden Verteidigungsetats.

Und Russland: Russland muss selbst zu einer konstruktiven Rolle in der europäischen Sicherheitspolitik finden. Die NATO hat seit 1990 ein sehr umfassendes Angebot zur Zusammenarbeit gemacht, kooperative statt konfrontative Sicherheit, allerdings ist nicht so viel draus geworden wie erhofft. Auch die NATO hat das nicht immer richtig angefangen, sie hat vor allen Dingen die russische politische Psychologie nicht so gut verstanden. Ich hab selber die Putin-Rede vom Februar 2007 in München bei der Sicherheitskonferenz mit dem Grundtenor "Der Westen macht, was er will" noch im Ohr.

Ich persönlich meine, in der russischen Sicherheitspolitik ist viel neues Denken erforderlich, die NATO sollte das dadurch erleichtern, dass sie selbstkritisch ihren Anteil an der Verantwortung für die Verschlechterung des Verhältnisses akzeptiert, und beide gemeinsam müssen dieses Nullsummendenken überwinden in der Sicherheitspolitik, wo angeblich der eine immer nur auf Kosten des anderen gewinnen kann. Jetzt haben wir ja das Raketenabwehrsystem als Streitpunkt, wo leider statt eines Game Changers, wie manche sagen, dieses Projekt der NATO, wo wir Russland Kooperation angeboten haben, zum Show Stopper zu werden droht …

Wuttke: Herr Wittmann, jetzt lassen Sie uns noch mal ganz kurz die Frage …

Wittmann: … Putin auch nicht nach Chicago kommt.

Wuttke: Ja, lassen Sie uns vielleicht dann doch noch mal ganz kurz die Frage der Asienausrichtung der USA und ihr Blick auf Europa vertiefen, denn die Herausforderung für Europa ist ja auch zu sehen vor dem Hintergrund des Schuldenberges, den wir haben, und dem, ja, sagen wir mal der Möglichkeit der Vision, die Sie möglicherweise ablehnen werden, dass es eigentlich für Europa gemeinsame Streitkräfte braucht.

Wittmann: Ich lehne diese Vision überhaupt nicht ab, ich finde diese erwünschenswert, ich sehe sie bloß erst in weiter Zukunft verwirklichbar, denn bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union, da hapert es ja noch vielfach mit dem G, mit dem Gemeinsam. Und die militärischen Fähigkeiten, um den Beitrag zur Bewältigung sicherheitspolitischer Probleme als Europäische Union zu leisten, bedeutet auch mehr Kooperation bei der Herstellung militärischer Fähigkeiten und ausreichende Verteidigungshaushalte, die durch die Schulden, Finanz- und Wirtschaftskrise natürlich im Augenblick überall abschmelzen.

Beim Chicago-Gipfel soll über die sogenannte Smart Defense gesprochen werden, die Europäische Union nennt das Pooling and Sharing, das heißt, dass nicht jeder alle Fähigkeiten behalten muss oder mehrere Partner militärische Fähigkeiten gemeinsam betreiben. Aber da kommt natürlich auch Deutschland ins Spiel, denn die Verzahnung militärischer Potenziale erfordert das Vertrauen, dass die einzelnen Partner dann auch zur Verfügung stehen.

Wuttke: Vor dem NATO-Gipfel am Wochenende in Chicago Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur. Ich danke sehr!

Wittmann: Vielen Dank!


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