Die Naikan-Methode

Meditation hinter Gefängnismauern

In der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Burgdorf sprechen zwei Häftlinge (hinten) mit Mitarbeitern von der Braunschweiger JVA.
In der Justizvollzugsanstalt in Burgdorf sprechen zwei Häftlinge (hinten) mit Mitarbeitern der Braunschweiger JVA. Das Gespräch orientiert sich an der japanischen Naikan-Methode. © picture-alliance/ dpa/dpaweb
Von Ursula Reinsch · 25.01.2015
Eine besondere Form der Meditation aus Japan wendet sich vor allem an Strafgefangene. Naikan heißt sie. Es geht darum, das eigene Leben neu zu bewerten und das Thema Schuld zu hinterfragen. Das niedersächsische Justizministerium hat sogar einen Naikan-Beauftragten.
"So wie ich Naikan kennen gelernt habe, kann Naikan eine intensive Wirkung auf religiöse Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen haben..."
"Das Intensivste war, dass ich mich nicht mehr als Opfer gefühlt habe..."
"Für mich war Naikan eine harte Arbeit. Ich musste in dieser Woche mehrmals über meinen Schatten springen, und ich glaube, viel Schwierigeres gibt es nicht. Das ist harte Arbeit."
Harte Arbeit – davon berichten Menschen, die ein Naikanseminar hinter sich haben. Menschen, die ihre Wahrnehmungen und Erinnerungen prüfen wollen. Die sich mithilfe einer strengen und strukturierten japanischen Meditationsart weiterentwickeln wollen. Die sich eine Woche lang ausschließlich drei Fragen gestellt haben.
"Was hat eine bestimmte Person für mich getan? Was habe ich für eine bestimmte Person getan? Welche Schwierigkeiten habe ich einer bestimmten Person bereitet?"
Wilfried Geppert stellt diese drei Fragen, die im Naikan zentral sind, Menschen seit Jahren in Seminaren - außerhalb und innerhalb von Gefängnissen. Der Naikanbegleiter war lange Abteilungsleiter in einer Justizvollzugsanstalt. Und seit 2011 ist er "Naikanbeauftragter des Niedersächsischen Justizministeriums". Einige hochrangige Ministeriumsmitarbeiter haben selbst an Naikanseminaren teilgenommen. Und danach waren sie überzeugt davon, dass diese Form der Selbstreflexion die soziale Verantwortung erhöhen kann.
Was ist – auf einen einfachen Nenner gebracht – Naikan?
"Sehr einfach gesagt wäre Naikan ein Schweigeseminar, das meditative und psychologische Aspekte vereint. Ein stiller Weg zur Selbsterkenntnis. Naikan ist aber auch Dankbarkeit, Verantwortung, Gelassenheit. Es verändert das Bewusstsein."
Naikan kann Bewusstsein verändern – eben durch diese besondere Form der „Innenschau", der inneren Prüfung. Diese beginnt stets damit, dass sich ein Mensch gegenüber seiner Mutter prüft. Dann gegenüber seinem Vater. Und dann gegenüber anderen wichtigen Bezugspersonen. Das geschieht in festgelegten Etappen: Zuerst die ersten sechs Lebensjahre, dann die nächsten sechs und so weiter.
"Schnittmenge zwischen Naikan und christlichen Grundwerten"
Der strenge Ablauf erhöhe die Aufmerksamkeit, erklärt Wilfried Geppert:
"Über die Dauer von einer Woche, das ist wichtig, und 15 Stunden am Tag sich diesen Fragen zu stellen bewirkt, dass ich mich auch auf etwas konzentriere. Zusammen mit einer Reduzierung von äußeren Einflüssen, kein Fernsehen, kein Radio, nichts zu lesen, kein Blick nach draußen nach Möglichkeit, bewirkt, dass ich mich wirklich auf das wesentliche konzentrieren kann. Über diese Zeit entfalte ich dadurch mein Gedächtnis. So wirkt Naikan."
Das Gedächtnis trainieren, sich konzentrieren. Nicht über Ersehntes oder Erwünschtes grübeln. Sondern nüchtern erforschen, was man im Leben alles bekommen hat. Das ist die Aufgabe. Dabei alleine hinter einem Paravent sitzen. Auf zwei Quadratmetern. Auf einem Schemel. Der Rücken schmerzt. Die Gelenke werden steif. Und dabei sich trotzdem sich auf die drei Fragen konzentrieren. Wenn die Gedanken abschweifen, immer wieder zurückkehren zur Prüfung. Einzig der Naikanbegleiter unterbricht die stille Bilanz.
"Herzlichen Dank, dass du dich erinnert hast. Prüfe bitte weiter."
Wilfried Geppert bedankt sich so bei jedem Seminarteilnehmer. Hier bei Sabine Schildgen, einer 49-jährigen kaufmännischen Angestellten:
"Meine Eltern haben sich getrennt, da war ich zwölf. Und mein Vater war immer der Böse. Er ist weggegangen, er hat mich verlassen, und in der Woche habe ich gesehen, wie viel er versucht hat, gerade in dieser Zeit auch versucht hat, für mich zu tun, mich zu schützen in dieser Situation. Er hat versucht, für mich da zu sein, Gespräche gesucht, versucht mir klarzumachen, das eine ist meine Mutter, das andere bin ich. Ich habe so einen anderen Blickwinkel dafür gekriegt, dass ich sehen konnte, was er mir, egal wie die Situation war, wie viel Liebe er mir gegeben hat."
Den Reichtum des Lebens erkennen – das ist nach Martin Burgdorff das Wichtigste. Er ist Pfarrer und seit zehn Jahren Naikanbegleiter. Wie einige seiner Kollegen. Warum?
"Es gibt ne Schnittmenge zwischen Naikan und christlichen Grundwerten. Wie Liebe, Vergebung, Achtung, Dankbarkeit, Aufmerksamkeit, Rücksichtname."
Heute wird Naikan weltweit frei von einem bestimmten religiösen Bezug angeboten. Die Motivation, die zur Entwicklung von Naikan führte, war allerdings eine religiöse. Ishin Yoshimoto ist Gründer der Methode. Er wurde 1916 in Nara, Japans alter Hauptstadt, geboren und gehörte dem Jodu—Shinshu-Glauben an. Diese „Wahre Schule des reinen Landes" ist Teil der buddhistischen Traditionen Japans.
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"Ishins Kindheit war religiös geprägt. Er wollte die von seiner Religion versprochene Errettung und Gnade erfahren. Deshalb wählte er die umstrittene asketische Methode Mishirabe."
Das bedeutete: Sieben Tage lang ohne Essen, Trinken, Schlafen und ohne Betreuung nur der Frage nachzugehen: „Wohin gehe ich, wenn ich jetzt sterbe?" Beim vierten verzweifelten Versuch wurde Ishin von tropfendem Wasser gestört.
"Doch dann zeigte sich ihm das innere Bild, wie der Tropfen schließlich zum Meer gelangt, dort als Wasserdampf aufsteigt, als Regen im Gebirge wieder herunterkommt und so erst nach äußerst langer Zeit wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück kehrt. Er verglich sich selbst mit diesem Tropfen. Plötzlich war ihm egal, was mit ihm passieren würde, in seinem Geist bestand nur noch das Verlangen, dass alle Menschen gerettet werden sollten, selbst wenn er nie gerettet würde. Das war sein Durchbruch, sein Ego hatte aufgegeben.
Ishin wollte verhindern, dass seine spirituelle Erfahrung zur bloßen Erinnerung verblasst. Er wollte sie in seinen Alltag integrieren und möglichst vielen Menschen zugänglich machen. Ohne den Weg der harten Askese. So entwickelte er im Laufe der Jahre Naikan. Sein Motto war:
"Mit voller Kraft und ohne Nachlässigkeit prüfe Dich selbst."
Dieses "Prüfe Dich selbst" hat der japanische Strafrechtler Professor Akira Ishii weltweit bekannt gemacht. Als Seminarangebot in Unternehmen und Institutionen, in Schulen und Suchteinrichtungen und auch ganz besonders in Gefängnissen. Denn wer bei der dritten Naikanfrage: "Womit habe ich einem anderen Menschen Schwierigkeiten gemacht?" ankommt – der landet bei Schuldfragen. Das ist besonders wichtig für Straftäter - für ihr Leben im Gefängnis, für ihr Leben nach der Haft. In Japan reduziert Naikan die Rückfallquoten Gefangener um 23 Prozent, hierzulande laufen Langzeituntersuchungen. Denn Naikan wird bundesweit in etlichen Justizvollzugsanstalten angeboten.
Ein Manager, der zum Mörder wurde
So auch im Gefängnis in Sehnde. Dort ist Rainer L. inhaftiert – schon seit neun Jahren. Er hat an einem Naikanseminar teilgenommen. Der 59-jährige hat die schlimmste Schuld auf sich geladen, die das deutsche Strafgesetzbuch kennt:
"Ich hab 2005 meine Frau getötet und hab daraufhin lebenslänglich bekommen."
Wie viele Jahre er noch einsitzen muss, weiß der ehemalige Manager nicht. Er hofft auf baldige Begnadigung.
"Ich habe mich mit meiner Schuld beschäftigt. Da kommt natürlich dann auch Reue dazu. Es war schwierig. Was die Schuldfrage betrifft, ja ich konnte mir selber vergeben. Das ist so. Ich werde das auch nie vergessen, das wird mich mein ganzes Leben lang begleiten, diese Schuld, diese Scham, alles was da noch mit reinspielt, dass so was überhaupt passieren kann. Durch Naikan, durch diese drei Fragen, speziell in dem Fall von meiner Frau, das hat mir schon sehr geholfen."
"Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein..."
Dieser Satz von Jesus Christus aus dem Johannes-Evangelium passt perfekt zu Naikan. Und zur Schuld. Auch zur Alltags-Schuld, die nicht ins Gefängnis führt. Sabine Schildgen:
"Wenn ich an das Thema Schuld denke, während dieser Naikanwoche, das ist schon schwierig. Als ich mich meiner Mutter gegenüber geprüft habe, ist mir eine Situation klargeworden. Zu dem Zeitpunkt, als mein Vater sich von meiner Mutter getrennt hat. Zum gleichen Zeitpunkt ist der Vater meiner Mutter gestorben. Das heißt meine Mutter war zum gleichen Zeitpunkt sowohl von ihrem Mann als auch von ihrem Vater verlassen worden. Und in dieser Zeit musste sich alles um mich drehen. Und meine Mutter hat so viel für mich getan in dieser Zeit, und ich habe das nicht gesehen. Man kann es nicht mehr ändern. Und dann kann man es sich nur noch angucken und vielleicht auch verstehen. Und ein Verzeihen, auch gerade sich selber gegenüber. Das ist Heilung."
Beichte beim eigenen Ich. Die kann man täglich ablegen. Für den Gefängnispfarrer und Naikanbegleiter Gerhard Dierks ist sie zum täglichen Ritual geworden.
"Ich mache das ganz konkret so, dass wenn ich hier meinen Arbeitsplatz verlasse, habe ich immer zehn Minuten bis zur Bushaltestelle und dann gehe ich den Arbeitstag mit diesen drei Fragen durch. Das ist so ne Art Tagebilanz am Ende jedes Arbeitstages. Das hat was sehr sehr Klärendes."
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