Die Moral der Geschichte

Von Johannes Halder · 23.09.2009
Der "Hof für die Pachteinnahme" gilt als das Musterkunstwerk der chinesischen Kulturrevolution. 114 lebensgroße Tonfiguren stellen in dramatischen Szenen das Elend der Landbevölkerung im vorrevolutionären China nach. Eine reisetaugliche Kopie des 1965 entstandenen Ensembles wird erstmals in Europa gezeigt: "Kunst für Millionen".
Mehr als 70 Meter zieht sich das Werk die Wand entlang, ein schier endloser Treck von über 100 lebensgroßen Figuren aus verkupfertem Fiberglas: Bauern, Alte, Frauen, Kinder, Tiere. Sie schleppen schwere Säcke und ziehen mit Karren, Kisten und Körben zum Hof ihres Feudalherrn, um die Pacht abzuliefern. Es sind vom Elend gebeugte und geschundene Gestalten, gebückt unter der Last, kontrolliert und schikaniert von den Knechten des Großgrundbesitzers.

Wir blicken in ihre Gesichter, die der Täter und der Opfer, und sind mittendrin, in der Provinz Sichuan, im Landkreis Dayi, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist die Zeit vor der kommunistischen Machtübernahme, vor Maos "Großem Sprung", und Liu Wencai, den Feudalherrn, hat es tatsächlich gegeben. Da sitzt er und räkelt sich, die Beine lässig übereinander geschlagen, in einem Lehnstuhl, und verfolgt die Ausbeutung seiner Bauern mit ungerührter Miene.

In ganz China kursierten damals Geschichten über seine Grausamkeit. Wie er seine Schuldner beim Messen hemmungslos mit falschen Maßen betrog, sie mit Schlägen traktierte, sie fesseln und in feuchten Kerkern verrotten ließ, und "Der Hof für die Pachteinnahme", dieses plastische Mammutwerk, das 1965 entstand, beschreibt das System als ein plastisches Drama, sagt Kuratorin Esther Schlicht:

"Einer Frau wird ihr Baby entrissen, weil sie dem Großgrundbesitzer als Amme dienen soll, jemand anderes wird zum Militärdienst zwangsrekrutiert, andere werden eingesperrt: Und am Schluss sieht man dann die Wut der Bauern als Andeutung darauf, dass die Bauern jetzt bereit sind für den Klassenkampf."

In sieben Szenen schildert das Werk, warum es zum Aufstand kommen muss – ein ergreifendes Lehrstück in einer einprägsamen Bildersprache. Man muss nicht lesen können, um die Moral der Geschichte zu verstehen.

Bald nach dem Tod des Tyrannen ließ man auf seinem Grundstück eine Gedenkstätte zur Volkserziehung errichten und beauftragte namhafte Bildhauer der lokalen Kunstakademie mit der Konzeption eines massentauglichen Werks, das die Schrecken des Kapitalismus möglichst authentisch vor Augen führen sollte.

"Die Künstler haben vor Ort relativ viel Feldforschung, kann man vielleicht sagen, betrieben. Sie haben auch die Bauern besucht, die in der Nähe von Dayi leben, haben sich deren Erfahrungen aus der Zeit vor der Revolution berichten lassen und haben tatsächlich auch die Bauern Modell stehen lassen, also haben Skizzen von ihnen angefertigt, Fotos gemacht.

Es gab dann auch einen Ansatz, eine Theatertruppe diese Szenen stellen zu lassen. Davon gibt es auch Fotos, die das dokumentieren. Aber da fanden die Künstler dann, dass das doch zu künstlich rüberkam und haben diese Fotos dann eigentlich gar nicht benutzt, sondern wirklich eher sich an ihren Bildern und Zeichnungen der Landbevölkerung orientiert."

Innerhalb weniger Monate war das gewaltige Werk aus Lehm bereits vollendet, und das ging nur im Kollektiv.

"Auch diese Künstler hatten im Prinzip bis dahin alle individuell gearbeitet und hatten eben bei diesem Großprojekt erstmals tatsächlich in einem solchen Kollektiv zusammengearbeitet, wo sie auch alle namentlich nicht genannt wurden und wirklich als Kollektiv aufgetreten sind."

Einer der beiden künstlerischen Hauptakteure, Professor Wang Guanyi, wollte jetzt nach Frankfurt kommen, um von damals zu berichten – wegen einer Erkrankung musste der prominente Bildhauer in China bleiben. Das ist schade, doch wer weiß, welch ideologisch verbrämte Version uns der alte Mann womöglich aufgetischt hätte. Denn das Werk selbst entfaltete zwar eine ungeheure Wirkung, Millionen von Menschen pilgerten dorthin, um es zu sehen, und manche von ihnen soll die Darstellung emotional derart ergriffen haben, dass sie auf die bösen Protagonisten einprügeln wollten.

Bald jedoch gab es, in Peking und anderswo, Kopien, die das originale Werk ideologisch veränderten und verfälschten, sagt Esther Schlicht:

"Es hat während der Kulturrevolution starke Änderungen an dem Werk gegeben, es wurde kritisiert, dass es zu unrevolutionär, zu indirekt sei, und es wurde der Schluss der Skulpturengruppe geändert in eine Szene, wo Mao verherrlicht wird und einfach eine viel eindeutigere Bildsprache gesprochen wird.

Diese Szene ist dann auch abgebaut worden. Das Museum hat aber weiter existiert und ist auch als Gedenkstätte erhalten geblieben. Aber es wurden eben nicht mehr weitere Varianten hergestellt oder ausgestellt."

Was wir in Frankfurt sehen, ist auch eine Kopie, aus den frühen 70er Jahren, aber ganz nah am Original. Vier Jahre dauerte die Herstellung. Natürlich ist das Werk tendenziös, eine pathetisch gefärbte Anklage, die Partei nimmt für die Schwachen und Ausgebeuteten. Im Vorraum der Schau wird vor revolutionsrot gestrichenen Wänden die politische und künstlerische Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dokumentiert, erläutert auch durch einen Film.

Für ein kollektiv geschaffenes Werk sind die Figuren und deren Physiognomien erstaunlich homogen. Sie sind kein hohler Kitsch, nicht rührselige Propagandakunst, sondern auch heute noch packender Realismus, der sich locker mit fast allem messen kann, was damals auch im Westen je an Politkunst produziert wurde. Man findet westliche Vorbilder wieder; sozialistischer Realismus sowjetischer Prägung mischt sich mit Rückgriffen auf die chinesische Tradition, und die gestenreiche Theatralik der Figuren lässt mitunter auch an eine chinesische Oper denken.

Für das spektakuläre Gezerre um die chinesischen Buchmessen-Auftritte jedenfalls lässt sich diese Schau nicht ausschlachten. Dass Maos Kommunisten es nicht besser machten, dass sie auf ihre Weise die Massen drangsalierten, Millionen mordeten und das Volk an die Partei versklavten, ist nichts Neues. Und dass die repressiven Methoden bis heute anhalten, ist selbstverständlich ein Skandal. Doch der steht auf einem anderen Blatt.

Gleichwohl ist die Schau ein Beispiel für die Unterwerfung der Künste unter die Politik. Doch hier hat am Ende die Kunst triumphiert.