Menschen im Exil

Die Mitleidsindustrie

Syrische Flüchtlinge überqueren am 21. September 2014 bei Sanliurfa die Grenze zur Türkei.
Aktuell suchen mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge allein in der Türkei Schutz. © pa/dpa
Von Jenni Roth · 30.09.2014
Kriege, Verfolgung, Hungersnöte: Millionen Menschen leben in Flüchtlingscamps. Versorgt werden sie von einer gigantischen Branche mit Milliardenumsätzen. Die Hilfsorganisationen sorgen für Zelte, Wasser und Essen. Was den Heimatlosen jedoch fehlt, ist eine Zukunftsperspektive.
Hala Mohammad, Dokumentarfilmerin und Autorin aus Latakia, Syrien: "Mein Gedichtband heißt 'Und der Schmetterling sagte': Schmetterling - das steht für mich für Syrien, für die syrische Revolution. Ein Schmetterling ist auch so verletzlich. Und voller Symbolik. Meine Freunde sagten mir, wenn du gehst, berichte der Welt, wie es uns hier geht. Mit meinen dokumentarischen Gedichten will ich das Schweigen brechen."
Der Flüchtlingsstrom aus Syrien reißt nicht ab. Es ist die größte humanitäre Krise des 21. Jahrhunderts, fast die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht, auch die Lage im benachbarten Nordirak spitzt sich immer weiter zu.
Hala Mohammad spricht in ihren Gedichten von Namenlosen im Niemandsland: Von Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien oder Deutschland, stumme Sammelstätten mit Hunderttausenden entfremdeten Menschen. Denn nur wenige schaffen es bis nach Europa.
Mahmoud Swadi ist einer von ihnen.
Von Syrien nach Berlin-Lichterfelde
Ein Donnerstagnachmittag im August in Berlin-Lichterfelde. Keine einladende Gegend. Eine halbe S-Bahnstunde vom Zentrum entfernt drängen sich Wohntürme aneinander, ein paar sind hilflos bunt angemalt, andere von Zeit und Wetter verwaschen.
In einem dieser Bauten wohnt Mahmoud Swadi mit Frau und zwei kleinen Kindern. Der 32-Jährige ist froh über sein neues Zuhause im siebten Stock: Es gibt Strom und es gibt Wasser - und das rund um die Uhr. Keine Selbstverständlichkeiten für die Familie, die vor ein paar Monaten nach Deutschland gekommen ist.
Auf dem Wohnzimmertisch hat Swadi sein Laptop aufgeklappt. Er zeigt Bilder aus Zaatari, dem größten Flüchtlingscamp Jordaniens. In seiner Heimat Syrien war der Arzt privilegiert: ein Haus, ein großes Auto, ein gutes Leben. Dann verhafteten ihn Assads Truppen. Seine Familie konnte ihn freikaufen, zusammen flohen sie nach Jordanien und mieteten eine Wohnung in der Hauptstadt Amman. Jeden Tag fuhr der Arzt ins 180 Kilometer entfernte Lager, um dort als Arzt zu arbeiten. Ein Nicht-Ort, sagt er, an dem keine Vögel singen und keine Blumen wachsen.
"Zaatari hier, guck, soo groß, das ist ganze Stadt, in die Wüste ..."
Auf der Satellitenkarte ist Zaatari ein weißer Fleck inmitten einer braunen Wüste: Mehr als 120.000 Menschen hausen hier in den weißen Zelten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, täglich werden es mehr. Das Lager ist zu einem urbanen Gebilde angewachsen, es gibt eine Hauptstraße, die die Bewohner "Champs-Elysees" nennen. Am Straßenrand liegen Werkzeug, Geschirr und Schuhe zum Verkauf.
51 Millionen Menschen auf der Flucht
Dabei ist der Handel im Lager illegal - die Händler sind keine freien Bürger. Sie sind Flüchtlinge, wie - nach offiziellen Zählungen - mehr als 51 Millionen Menschen auf der Welt. So viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht, sagt Christoph Strässer:
"Meine Funktion ist beschrieben als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Der zweite Teil der humanitären Hilfe ist bisher nur so mitgelaufen. Das ändert sich grade, weil sich die Zahl der Katastrophen, bei der humanitäre Hilfe geleistet werden muss, deutlich erhöht hat. Die Vereinten Nationen haben festgestellt, dass sich der humanitäre Bedarf in den letzten Jahren fast verdreifacht hat. Von 2006 4,4 Milliarden auf jetzt 13 Milliarden US-Dollar jährlich. Und dass das nicht das Ende der Fahnenstange ist. Das ist ne Riesenherausforderung."
Die Menschen fliehen vor Kriegen, Verfolgung und Hungersnöten. Das gab es schon immer. Neu ist, dass es so viele sind. Und dass immer öfter nicht absehbar ist, wann - oder ob überhaupt - sie in ihre Heimat zurückkehren können. Und die Flüchtlingslager sind darauf nicht ausgerichtet, weiß der Arzt Swadi aus Erfahrung:
"Die Leute glauben, sie bleiben hier für ein, zwei, drei Tage, einen Monat, zweiter, aber es ist ein Jahr oder zwei Jahre. Ein Jahr in Zelt? Das ist Katastrophe, für Jungen, Mädchen ... Mädchen brauchen Privatplatz. Es gibt keine Toilette für Mädchen, alles ist offen. ... z.B. für alle diese Leute es gibt keine Toilette. Gehen auf Straße oder machen ein Grab, machen da. Familien neben Familie, Familie neben Familie."
Flüchtlinge halten sich in der Flüchtlingsunterkunft in Essen in ihrem Vielbettzimmer auf.
Flüchtlinge in einer Flüchtlingsunterkunft in Essen© picture alliance / dpa / Roland Weihrauch
Es fehlt an allem
Viele Menschen leben in Zaatari, seit hier vor zwei Jahren die ersten Zelte aufgestellt wurden. Durchschnittlich leben Flüchtlinge mittlerweile mehr als zehn Jahre in Lagern. Oft sind Stromleitungen leck, es gibt keine Toiletten, keine Privatsphäre. Im Nordirak sind innerhalb weniger Wochen mehr als eine Million Menschen geflohen, die jetzt akut versorgt werden müssen. Ein unhaltbarer Zustand auch hier, sagt der Politiker Strässer nach einer Reise ins irakische Erbil:
"Das Lager, wo wir waren, das war geplant für 2000, jetzt sind da ungefähr 20.000. Wir sind ausgestiegen aus den Autos mit den Hilfsorganisationen, da war ein kleiner Sandsturm. Ich hab's fünf Minuten ausgehalten, dann musste ich wieder rein. Und die Leute leben da! Da zeigt sich, dass Infrastruktur in Lagern nur für kurze Zeit ausgerichtet ist. Es fehlt an allem, an Sanitärversorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung für Kinder."
Swadi: "Es gibt Schulen, aber keine Pflicht. Nicht genug Schule für alle. Im Winter 2010 war sehr kalt, und es gab Überschwemmung, und alle Zelte war's mit Wasser. Dann die Familien zu Schule gehen und da sitzen drei Wochen und es gibt keine Schule. Sehr Katastrophe."
Manche werden in Lagern geboren, verbringen ihre ganze Kindheit, Jugend dort. Ohne Heimat, Privatheit, Bildung und Kultur werden sie jeden Tag mehr zu Entwurzelten. Die Flüchtlingshilfe steht vor neuen Herausforderungen - tut aber das, was sie schon vor 20 oder 50 Jahren getan hat: Sie liefert schnell und effizient Wasser, Nahrung, Hilfsgüter. Was fehlt, ist eine Perspektive, sagt auch Martin Bröckelmann-Simon, Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor, das mit Partnerorganisationen in 96 Ländern der Welt zusammenarbeitet.
Bröckelmann-Simon: "Wenn so viele Menschen auf so engem Raum aufeinander hocken und dann noch ohne wirkliche Perspektive, da entstehen Spannungen die enorm groß sind. Das ist auch deshalb fatal, wenn eine Arbeitsaufnahme so konsequent verwehrt wird und eine Kasernierung passiert. Ich habs selbst gesehen in diesem Jahr, in den Menschen ist unglaublich viel Schreckliches in den Seelen, was die erlebt haben, das können wir uns gar nicht vorstellen, da brauchen die Hilfe."
Aber wer soll all den Menschen helfen? Und wie? Mit welchem Geld? Die Hilfsindustrie auf dem Prüfstand.
"Desaster Porno"
"Rund um humanitäre Hilfe ist eine wahre Industrie entstanden, Karawanen von Organisationen, die mit den Geldströmen reisen und in immer wieder neuen humanitären Räumen um einen möglichst großen Teil der Milliarden konkurrieren. Sie müssen ihr Überleben sichern, ihr großen Büros, ihre Mitarbeiter und ihre Ausrüstung finanzieren. Deshalb müssen sie besser, schneller vor Ort und sichtbarer sein als ihre Konkurrenten. Aus: Linda Polman "Die Mitleidsindustrie".
Und die ist eine hochprofessionell organisierte, milliardenschwere Branche. Allein das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verfügte im vergangenen Jahr über mehr als fünf Milliarden US-Dollar und beschäftigt knapp 8000 Mitarbeiter in 125 Ländern. In ihrem gleichnamigen Buch stellt die niederländische Autorin Linda Polman diese "Mitleidsindustrie" an den Pranger. Ereignet sich irgendwo auf der Erde eine Katastrophe, setzt sich eine gigantische Maschinerie aus Produzenten, Lieferanten und Logistikern in Bewegung. Oder, wie Polman beschreibt, ein Wettlauf der Hilfsorganisationen beginnt: Lager aufbauen, Hilfsgüter verteilen - und ran an die mediale Inszenierung: Wer als erster die traurigsten Bilder habe, bekomme die meisten Spenden. Am einträglichsten seien "Donor Darlings", etwa besonders mitleiderregende Kinder, die mit prominenten Gästen gezeigt würden. Für dieses Phänomen gibt es sogar einen Fachbegriff, sagt Dennis Dijkzeul, Professor für das Management humanitärer Krisen an der Ruhr-Universität Bochum:
"Das nennt man Desaster Porno. Ich werde eine schreckliche Anekdote erzählen: Es gab einen Journalisten, der kam in ein Krankenhaus und fragte: Is there a nun who was raped and speaks English? Diese Art von Instrumentalisierung des Elends gibt es in den Medien und in der Werbung für die humanitäre Hilfe. Ein Beispiel: Wir kennen Fotos von Kindern, die Hunger haben. Das sind Fotos von nur einem Kind, weil man herausgefunden hat, wenn man zwei hungernde Kinder zeigt, dann gibt es schon weniger Erfolg beim Fundraising. Dieses eine Foto von dem einen Kind is there to pull heart strings, so that people pull their purses, also dass die Leute Geld geben."
"Es gibt mindestens 37.000 internationale Hilfsorganisationen, die darum wetteifern, das Geld auszugeben. Diese Hilfsindustrie ist zu groß geworden - wie ein Monster, das nicht länger kontrolliert werden kann." Aus: Linda Polman "Die Mitleidsindustrie"
In Zaatari umfasst das "Monster" etwa 150 Hilfsorganisationen: Staatliche und nicht-staatliche, muslimische, Finnen, Saudis, Amerikaner haben ihr Revier mit Fahnen und Wimpeln abgesteckt. Alle wollen vor Ort sein - das sichert ihnen nach Polman ihre Daseinsberechtigung gegenüber Geldgebern und den Organisationen selbst: Wer viele Einsätze nachweisen kann, bekomme in der Regel das meiste Geld. Nach dieser Logik hätten die Helfer kein Interesse daran, dass Flüchtlinge in normale Lebensverhältnisse zurückkehren. Für viele Helfer ist das purer Zynismus. Für Polman ist es mit ein Grund, weshalb die Organisationen gute Ideen von außen bisher gern abgeblockt haben.
Syrische Kurden überqueren am 20. September 2014 die Grenze nahe der Stadt Suruc die Grenze von Syrien zur Türkei.
Syrische Kurden überquere die türkische Grenze nahe der Stadt Suruc.© AFP / BULENT KILIC
Helfer brauchen Hilfe
Doch die Krisen verschlimmern sich, Lager werden zu Nährböden für Slums und neue Konflikte. Die Menschen beginnen aufzubegehren, sie demonstrieren für mehr Rechte und mehr Menschenwürde. Erstmals geben auch die Helfer zu, dass sie Hilfe brauchen.
Einer, der den Helfern helfen könnte, sitzt rund 4000 Kilometer weiter nördlich, in Hamburg.
"Es gibt ne große Skepsis gegenüber designtechnischen Innovationen, die von außen herangetragen werden. Wir stoßen nicht nur auf Applaus und Unterstützung."
Daniel Kerber hat es trotzdem geschafft. Als Bildender Künstler und Architekt hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Dinge neu zu denken, um die Ecke zu denken und wollte irgendwann mehr bewegen als die Gemüter von Galeristen und Museumsbesuchern.
"More than Shelters ist ein Sozialunternehmen aus Hamburg, wir sind das einzige Sozialdesignbüro in Deutschland, das sich speziell für humanitäre Zwecke gegründet hat. Wir haben zwei Projekte: Das eine ist eine mobile Notunterkunft in Baukastensystem, das wir mit Flüchtlingen gemeinsam erarbeiten, um eine nutzerorientierte Unterbringungsmöglichkeit für Flüchtlinge anbieten zu können. Das andere ist eine Innovations- und Planungsagentur in Zaatari, um den Menschen zu helfen, einen nachhaltigen Lebensraum aufzubauen."
Leben statt Überleben
Der Name "More than Shelters" ist Programm: Kerber will - mit Crowdfunding-Geldern - ÜBERlebensräume durch LEBENSräume ersetzen: Wie baut man eine funktionierende Infrastruktur in Flüchtlingslagern auf? Gibt es soziale Gefüge, kulturelle Angebote? Jobs? Es geht nicht mehr "nur" darum, Essenspakete und Trinkwasser bereitzustellen. Es geht um Menschenwürde und Individualität. Am deutlichsten zeigen sich kulturelle Unterschiede beim Wohnen: Mal sind Acht-Personen-Zelte zu klein, mal zu groß. Mal braucht man einen abgetrennten Bereich für Frauen, mal für Kinder oder die Alten. Doch Zelte sind unflexibel, man kann keine Wände einreißen oder ein Stockwerk obenaufsetzen.
"Domo" heißen Kerbers wabenartige, futuristische Rundhütten. Auseinandergenommen lässt sich die kleine und leichte Konstruktion in großen Mengen an die Zielorte befördern. Die Einzelteile kann man auswechseln, frei kombinieren und so an verschiedene Klimata, Sozial- oder Familienstrukturen anpassen.
Der Name "Domo" kommt aus dem Esperanto, heißt "Zuhause" - und spielt damit auf eine große Angst mancher Aufnahmestaaten an: Dass sich die Flüchtlinge bei ihnen "häuslich niederlassen" könnten.
Kerber: "Und es gibt das Argument, na ja, wenn wir uns einrichten, wollen die nicht zurück. Meine Erfahrung ist, dass beides totaler Quatsch ist. Zum einen: Die Menschen wollen zurück, können aber nicht. Die wissen nicht, was in Syrien sich entwickelt. Wenigstens die Zeit, die sie im Lager sein müssen, wie man diese Zeit würdig überbrücken kann, das ist eine große Herausforderung."
Mittlerweile hat Kerber das UNHCR und das Technische Hilfswerk für sein Projekt gewonnen, und Experten beobachten einen regelrechten "humanitären Innovationstrend". Das UNHCR kooperiert etwa mit Microsoft, Ikea, UPS, der Stanford University. In seiner neuen "Innovation Unit" führt es Know-how aus verschiedenen Bereichen wie Technik, Design, und PR zusammen. Und setzt - wie die meisten Initiativen - auf den Input der "Endverbraucher": Denn keiner weiß besser, was sie brauchen als die Flüchtlinge selbst.
Die Politik ist auch voller Lob für "More Than Shelters", Kerber und sein Team gewinnen Preise und Fördergelder. Eine Motivation für Nachahmer, findet der Forscher Dijkzeul und gibt zu bedenken, dass es am Ende nicht reicht, nur Symptome zu behandeln:
"Ich finde wichtig, das es Initiativen wie More Than Shelters gibt. Sie sind aber nicht die Lösung. Es ist wichtig, dass wir helfen, dass wir Menschenleben retten. Aber die aktuellen Krisen brauchen politische Lösungen, das können Hilfsorganisationen allein nicht leisten."
Bootsflüchtlinge aus Afrika bei ihrer Ankunft auf der italienischen Insel Lampedusa
Bootsflüchtlinge aus Afrika bei ihrer Ankunft auf der italienischen Insel Lampedusa© picture alliance / dpa
Humanitäre Hilfe als Kriegswaffe?
"Humanitäre Krisen sind fast immer politische Krisen oder Krisen, die nur politisch überwunden werden können. Wenn Geber, Armeen und Milizen mit humanitärer Hilfe Politik machen, dann können NGOs es sich nicht erlauben, apolitisch zu sein." Aus Linda Polman "Die Mitleidsindustrie"
Dijkzeul: "Was passiert tatsächlich in humanitären Krisen, ist, dass es viele Akteure gibt mit eigenen Interessen. Kriegsherren, Lokalverwaltungen, nationale Regierungen, Nichtregierungsorganisationen müssen versuchen, mit allen Parteien vor Ort umzugehen, um einen Zugang zur hilfsbedürftigen Bevölkerung zu bekommen. Wenn man in Gebieten arbeiten will, wo Taliban arbeitet und sagt, man will keinen Austausch mit Taliban, dann wird man ermordet oder die Hilfe erreicht die Bevölkerung nicht. Es gibt interessante Forschungen, wie humanitäre Organisationen verhandeln mit den Kriegsparteien. Es gibt Leute, das werden wir vielleicht noch nicht in der Presse sehen, die auch mit Islamic State in Irak und Syrien versuchen umzugehen, Hilfe zu leisten. Es wäre naiv zu denken, dass man ohne mit Extremisten oder Kriegsparteien zu reden Zugang zu humanitären Krisen bekommen könnte."
Absolute Neutralitätspflicht war schon immer das oberste - und lebenschützende - Gebot der Helfer. Auch vor 150 Jahren, als das Deutsche Rote Kreuz gegründet wurde, erklärt Dennis Dijkzeul:
"Florence Nightingale bekam einen Brief von Henri Dunant, dass er das Rotes Kreuz gründen wollte. Sie schrieb: Aber was du willst, sorgt dafür, dass es für Staaten leichter wird, Krieg zu führen. Das ist das Dilemma der humanitären Hilfe, dass man einerseits Not lindert UND es Kriegsparteien leichter macht, Verantwortlichkeit nicht zu übernehmen. Das ist inherent der humanitären Hilfe."
Mehr Gewalt, mehr Hilfe
Doch die Organisationen verschärften das Dilemma noch, kritisiert Linda Polman in ihrem Buch: "Alles kaputtmachen. Dann kommt ihr und macht es wieder heil", beschreibt ein Jugendlicher in Sierra Leone Anfang 2000 das Prinzip - "gebrauchst du Gewalt, kommt Hilfe; gebrauchst du mehr Gewalt, kommt mehr Hilfe". Die Rebellen hätten die "humanitäre Logik" verstanden: So lange es jemanden gebe, der es richtet, könnten es sich die Konfliktparteien leisten, weiter Flüchtlinge zu produzieren. Schuld sei dabei die Konkurrenz unter den Helfern: Gemeinsame Absprachen, wie man mit einem erpresserischen Regime umgehen könnte, gebe es nicht.
"Nach jedem großen Hilfseinsatz steht es in ihren Abschlussberichten. Jedes Mal lautet die Schlussfolgerung: Wir sollten kooperieren, nicht konkurrieren. Denn das macht uns erpressbar und das ist nicht gut für die Leute, denen wir helfen wollen." Aus: Linda Polman "Die Mitleidsindustrie"
Bei aller Kritik: Die Hilfsorganisationen retten Leben, und das immer effizienter, sagt Dijkzeul. In den vergangenen 20 Jahren habe sich die Hilfe rasant verbessert, auch dank technischer Neuerungen. Doch diese Bemühungen riefen auch zweifelhafte Ansätze auf den Plan, die Helfer gerieten unverschuldet zwischen die Fronten.
"Es gibt Sicherheitsunternehmen wie damals Executive Altcom, die haben schon mehrmals ihren Namen geändert, weil sie so ein schlechtes Image haben. Die sagen, ja, wir versuchen hier humanitäre Krisen zu lösen. Da ist das nur ein Ansatz, mehr Geld zu verdienen. Für humanitäre Organisationen ist es ein Problem, dass die lokale Bevölkerung oder Kriegsparteien nicht mehr sehen, was ist hier ein Sicherheitsunternehmen, und was ist hier eine humanitäre Organisation."
Ebenso bedenklich sei der zunehmende Einsatz von Drohnen in der humanitären Hilfe - auch wenn die unbemannten Flieger etwa bei Naturkatastrophen nützliche Echtzeit-Informationen liefern können:
"Aber macht man das in Kriegsgebiet - ein Talibanführer, der mit humanitären Helfern arbeiten möchte, sieht, dass es eine Drohne gibt, glaubt nicht, wenn Hilfsorganisation sagt, das ist unsere Drohne, um besser zu verstehen. Damit werden humanitäre Organisationen öfter falsch wahrgenommen, auch als eine Art Kriegspartei. Deshalb ist die Sicherheit der humanitären Helfer wie in Sudan, Irak ist nicht mehr so sicher."
Die Schlagzeilen der letzten Wochen machen aber auch klar: Die Barbarei hat neue, ungekannte Ausmaße angenommen.
Bröckelmann-Simon: "Es ist eine traurige Erkenntnis der letzten Jahre, da wird die Zuspitzung der humanitären Krisen zur tödlichen Gefahr, weil die Zahl der Übergriffe auf humanitäre Helfer kontinuierlich zugenommen hat, auch die Zahl der Toten."
Eine Folge: Auch immer weniger Journalisten wagen sich in die Krisengebiete. Das heißt nicht, dass dort weniger Terror und Folter herrschen. Es heißt nur, dass die Bilder nicht bei uns angekommen. Umso wichtiger ist die Ursachenbekämpfung vor Ort - und hier ist die internationale Gemeinschaft gefordert.
Ruf nach einer neuen Weltordnung
"Als ich das erste Mal miterlebte, wie ein mündiger syrischer Bürger von heute auf morgen zum rechtlosen Flüchtling degradiert wurde, in ein Niemandsland verbannt, war ich frappiert, dass das internationale System das einfach so hinnimmt."
Mohammad macht aus ihrem Befremden Gedichte. Bernd Mesovic, Vize-Geschäftsführer der Menschenrechtsgruppe Pro Asyl, beschreibt das Problem aus einer politischen Sicht:
"Es ist eine Schande, dass UNHCR immer mit dem Klingelbeutel bei den Nationalstaaten herumgehen muss und sehen, dass es sein Jahresbudget zusammenbekommt. Alle UN-Organisationen können nicht besser sein als die Weltgemeinschaft. Es bedrückt mich, dass unsere Generation so unfähig ist, Flüchtlingsfragen in internationalen Kontexten mit substanziellen Lösungen zu begegnen."
Dijkzeul: "Was muss da passieren? Leider braucht man eine Politik, die utopisch ist. Weil: Um Gewalt, Seilschaften, Vetternwirtschaft, Korruption zu lindern oder zu lösen muss man eine andere Politik haben in Bereichen wie Waffenhandel, Subventionspolitik, Waffenpolitik, Migrationspolitik, Drogenpolitik. Weil man nur dann dafür sorgen kann, dass Gesellschaften sich stabilisieren."
Eigentlich, sagt der Forscher Dijkzeul, bräuchte es eine ganz neue Weltordnung. Doch die Politik hetzt von einem Brennpunkt zum nächsten, vor grundlegend neuen Strategien schreckt sie zurück.
Strässer: "Es gibt immer wieder Geberkonferenzen, auch zu Syrien, Irak. Wir reden ja schon nicht mehr über Zentralafrika, Sudan, das sind Katastrophen auf der höchsten Ebene, das stößt an seine Grenzen das ganze System. Ja, wir gehen von Krise zu Krise. Das soll genau durch so eine internationale Vernetzung in der Preparedness-Initiative verhindert werden in Zukunft."
Mit der "Preparedness-Initiative" meint Christoph Strässer eine Art Frühwarnsystem für Krisen. Auch einen "humanitären Weltgipfel" soll es geben - 2016, in der Türkei. Doch was passiert bis dahin mit den Vertriebenen, die zu Spielbällen von Schlepperbanden werden oder in Lagern stranden, in Nahost oder in Europa?
Strässer: "Ich finde, die EU - ich kapriziere das nicht auf Deutschland - wird sich in dieser Situation beweisen müssen, ob sie ihre Werte ernst nimmt. Sich darüber aufzuregen, dass man die Bilder auf dem Mittelmeer sieht, hilft nicht. Wenn man sie lösen will, gibt es drei Punkte: Es heißt immer so schön, Beseitigung der Fluchtursachen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Handelspolitik zu verändern, die Zollpolitik. Das zweite, ganz dringend, dass man diesen Menschen vor Ort, wenn sie denn weg wollen, ihnen die Möglichkeit gibt, das legal zu tun. Sie nicht in den illegalen Weg zu treiben, in Schiffe, Boote, Schlepperbanden. Da gibt es Denkmodelle, die etwa andere Formen von Visaerteilung möglich macht. Das ist eine schwierige politische Diskussion, von der ich mir wünschte, dass wir sie forcieren."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Notunterkunft in Marzahn-Hellersdorf© Hannibal/dpa
Deutschland und die Deutschen: Lost in Transition?
In einem Videospot fordert das Familienministerium die Deutschen im Rahmen eines "Soforthilfeprogramm des Bundes" auf, vorübergehend 55.000 syrische Kinder bei sich aufzunehmen - ein Hundertstel der 5,5 Millionen syrischen Kinder, die laut UNICEF hilfsbedürftig sind.
Eine Rettungsaktion mit historischer Dimension - und zu gut, um wahr zu sein. Der Appell war eine Fälschung, das Video Teil einer Kunstaktion des "Zentrums für Politische Schönheit", eine Reaktion auf die deutsche Flüchtlingspolitik angesichts der Lage in Nahost.
Viele Familien wären tatsächlich bereit gewesen, zu helfen. Doch die Politik dementierte.
Derweil werden überall in Deutschland Zelte und Container aufgestellt, das Land Berlin verhängte wegen der wachsenden Zahl von Flüchtlingen zeitweilig sogar einen Aufnahmestopp. Damit stehen die Deutschen vor denselben Fragen wie die Helfer in Zaatari oder dem Irak, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl:
"Es gibt eine Parallelität der innerdeutschen Diskussion mit der internationalen. Wir können nicht Provisorien fördern, wie das der Städte- und Gemeindetag gefordert hat, wie ein Marshallplan für die Flüchtlingsunterbringung in Deutschland. Gut, gerade müssen wir die schaffen, aber mehr als die Hälfte wird mit Sicherheit bleiben. Damit haben wir ein soziales Gesamtproblem, was nicht nur Flüchtlinge betrifft: Also: Wie kann ich bezahlbaren Wohnraum schaffen?"
Empfang mit Hitlergruß
Strässer: "Es bringt nichts, zu sagen, wir müssen bereit sein, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wenn ich weiß, dass die Kosten der Unterbringung und Versorgung zum Beispiel von manchen Kommunen nicht getragen werden können. Massenunterkünfte sind der falsche Weg. Es ist wichtig, dass man Leuten, die Sorge haben, da kommen Menschen, die nehmen uns Arbeit weg - ich kann denen nicht die Angst nehmen, indem ich sage, du brauchst keine Angst haben. Für mich persönlich ist das klar, wir können uns leisten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Aber wir brauchen auch einen Konsens in der Gesellschaft. Wenn der kaputt ist, wenn Leute empfangen werden wie in Berlin-Hellersdorf syrische Flüchtlinge mit Hitlergruß, dann funktioniert das nicht. Da muss noch viel passieren."
In Berlin-Lichterfelde klappt Mohammed Swadi seinen Laptop zu. Um 19 Uhr beginnt sein Deutschkurs. Die nächste Prüfung muss er bestehen, um als Arzt in Deutschland arbeiten zu dürfen.
"Die deutsche Leute ist nett mit mir ... Mein Kinder in Kiga hier ..."
Swadis kleiner Sohn träumt immer noch von den Toten, versteckt sich auf der Toilette, wenn er laute Stimmen hört. Manchmal, wenn es eine Verbindung gibt, spricht Swadi mit dem Rest seiner Familie, die in Syrien geblieben ist. Es geht dann um die Bomben, die in der Nacht fallen und am Tag.