Die Metaphysik des Körpers

30.05.2013
Der Syrier Adonis besiegelt seinen Ruf als Dichter der Liebe und der Körperlichkeit. Der Poet begreift in seinen stets titellosen Texten sowohl Unglück als auch Verzweiflung als das Salz der Liebe. Die den Schmerz zulassende Offenheit des Liebenden lässt in seiner Liebeslyrik erst das Glück zu.
Der 1930 geborene Syrer Adonis ist als eine Art arabischer Nietzsche bekannt geworden, sein berühmter Zyklus "Die Gesänge Mihyars des Damaszeners" (Original 1963, deutsch 1998) gilt als das arabische Pendant zu "Also sprach Zarathustra".

Das Pseudonym Adonis, das er sich im Alter von siebzehn Jahren in der Hoffnung gab, seine Gedichte dadurch leichter publizieren zu können, steht daher ursprünglich weniger für Schönheit und Liebe als für ein weltanschauliches Erneuerungsprogramm, der Wiederauferstehung des Orients, wie in der antiken Mythologie der schöne Jüngling Adonis aus dem Reich der Toten wieder zum Leben erweckt wird.

Dass Adonis seit jeher auch Dichter der Liebe und des Körpers war, ist angesichts seines von Nietzsche und antiken Mythen geprägten Erneuerungsprogramms oft vergessen worden. Allerdings gelang es dem Autor stets, die Revolte des Körpers gegen die sexuellen Tabus und die Revolte gegen ein erstarrtes Gottesbild ingeniös zu verschmelzen. Adonis war der Dichter, der es wagte, den religiös aufgeladenen Begriff für die Unnachahmlichkeit des Korans, den "Idjaz", in seinen Versen unverblümt auf den Liebesakt anzuwenden – eine Häresie sondergleichen.
Die jetzt vorgelegten Liebesgedichte von Adonis – man darf sie, ohne es abwertend zu meinen, durchaus als Alterslyrik bezeichnen – gehen gemessen an der politisch-religiösen Revolte des Frühwerks den umgekehrten Weg: Statt die Metaphysik auf die Körperlichkeit herunterzubrechen, wird die Körperlichkeit mit einer Symbolik aufgeladen, die auf Höheres deutet, eine Mystik ohne Gottesbezug. Die Entkörperlichung, die der Mystiker in der Nähe zu Gott erfährt, vollzieht sich ausgerechnet in der – körperlichen – Begegnung mit der Geliebten: "Unsere Körper / Ein Wald der Knospen / Und die Zeit / Entströmt ihren Kelchen / Wie ein Parfum."
Labyrinth und Verirrung sind (nota bene positiv konnotierte) Fundamentalbegriffe der zugleich mystischen und post-nietzscheanischen Weltsicht von Adonis: "Lasst, o meine Lippen, sie nicht heran, / Lasst die Sprache der Vernunft nicht heran / und du, Glimmfeuer der Verwirrung, wachse dich aus zu Flammen", heißt es in einem der stets titellosen Texte.

Die Eigenheit der Liebeslyrik von Adonis liegt in ihrem entschiedenen Willen, sich zu verirren und Verzweiflung und Unglück als das Salz der Liebe zu begreifen. Nichts wird beschönigt, nichts betrauert. "Ohne Hoffnung, ohne Hoffnungslosigkeit", heißt es einmal in einem Vers, und doch ist dieser Zustand alles andere als deprimierend, sondern eine Form von Empfänglichkeit.

Die den Schmerz zulassende Offenheit des Liebenden ist es, die auch die Momente des Glücks zulässt. Die Metapher für diese Offenheit ist seit den frühsten Gedichten von Adonis die Wunde: "Ich frage mich: woher kommt zu meiner Wunde / dies sonnengekrönte Tier / Dies flüchtige?" Damit gewährt dieses schmale Buch einen vorzüglichen Einstieg in die Literatur des bedeutendsten arabischen Dichters unserer Zeit.

Besprochen von Stefan Weidner

Adonis: Der Wald der Liebe in uns. Liebesgedichte
Aus dem Französischen von Ingeborg Waldinger
Verlag Jung und Jung, Salzburg 2013
151 Seiten, 22,00 Euro