"Die Menschen brauchen mehr als den Doktor am Sterbebett"

Matthias Thöns im Gespräch mit Ulrike Timm · 05.03.2009
Der Arzt Matthias Thöns hofft, dass sich immer mehr Kassen bereit erklären, eine schmerzlindernde Sterbebegleitung von Todkranken in ihrer gewohnten Umgebung zu bezahlen. Eine Intensivmedizin im Krankenhaus sei in den allerseltensten Fällen nötig und von den meisten Patienten auch nicht gewünscht, betont Thöns.
Ulrike Timm: Wir sprechen jetzt mit einem erfahrenen Palliativmediziner, mit Matthias Thöns vom Palliativnetz Bochum. Ich grüße Sie.

Matthias Thöns: Guten Tag.

Timm: Herr Thöns, seit knapp zwei Jahren gibt es sogar einen gesetzlichen Anspruch auf palliativmedizinische - also insbesondere schmerzlindernde - Betreuung zu Hause. Da sollte doch der Kampf darum, wer was bezahlt, eigentlich längst gelöst sein?

Thöns: Genau, das sollte eigentlich so sein, und genau so steht es auch im Gesetz. Der Gesetzgeber hat am 1.4.2007 eben gesagt: Jeder deutsche, normal krankenversicherte Mensch hat ein Recht auf diese Behandlung. Es hat sehr lange gedauert, bis man sich geeinigt hat, worauf man eigentlich ein Recht hat und wer es denn dann anbieten darf, aber das ist alles geklärt seit Mitte letzten Jahres, und die Krankenkassen machen einfach keine Verträge mit Leistungsanbringern, wie wir es sind.

Timm: Das heißt, es ist etwas geklärt, was aber nicht umgesetzt wird, und ein Todkranker muss im Zweifelsfall einen Rechtsstreit führen, für den er nun wirklich keine Kraft hat?

Thöns: Genau so ist es. Es ist völlig unverständlich, dass die Bundesregierung eben ein Gesetz gemacht hat, was sehr gut ist, was europaweit führend ist in der Palliativversorgung, und dass das aber nicht beim Menschen ankommt, weil Krankenkassen sich einfach gegen dieses Gesetz sperren und eben schlicht keine Verträge machen mit Leistungsanbietern, wie wir es sind.

Timm: Wie gehen Sie denn in der Praxis damit um, wie handeln Sie?

Thöns: Wir haben mittlerweile einen Standard, den viele Ärzte auch wie wir in Bochum so machen, dass wir unsere Patienten bitten, uns quasi privatärztlich zu beauftragen. Wir versprechen den Patienten schriftlich, dass wir von ihnen niemals persönlich Geld fordern werden, fordern dann aber das Geld von den Krankenkassen ein, notfalls eben auch unter Zuhilfenahme des Gerichts. Leider muss der Patient da selber klagen.

Timm: Und praktisch ist es so: Die eine Krankenkasse zahlt, die andere nicht. Aber gibt es da irgendwelche Kriterien, nach denen Sie sich richten können?

Thöns: Ja, es ist ein bisschen so, dass die Krankenkassen, die schon mal Kontakt mit dem Gericht hatten und quasi vom Gericht gezwungen wurden, die Kosten zu tragen, das jetzt auch weiterhin so tun. Aber es gibt 200 verschiedene Krankenkassen in Deutschland, und wir haben mittlerweile so 40 Prozent der Versicherten durch, dass da die Krankenkasse der Kosten trägt, und 60 Prozent müssen wir jetzt weiter kämpfen.

Timm: Was müsste denn aus Ihrer Sicht am dringendsten geschehen?

Thöns: Am dringendsten müsste jetzt eine Aufsichtsbehörde tätig werden, die sagt: Dieses Gesetz ist kein unverbindlicher Vorschlag für Krankenkassen, sondern dieses Gesetz gilt wirklich, liebe Krankenkassen, bitte macht jetzt mit Leistungsanbietern Verträge, so wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat.

Timm: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Palliativmediziner Matthias Thöns aus Bochum. Er hat dort ein Palliativnetz aufgebaut, das sich Schwerkranken in der letzten Lebensphase umfassend annimmt. Herr Thöns, lassen Sie uns nicht nur beim traurigen Gezänk um die Mittel bleiben, sondern auch über Ihre besondere Aufgabe als Palliativmediziner sprechen. Was ist eigentlich das Wichtigste, um den Menschen einen erfüllten, einen friedlichen und schmerzfreien Tod zu Hause zu ermöglichen aus Ihrer Sicht?

Thöns: Es sind viele Dinge wichtig, die Menschen am Lebensende brauchen, vor allen Dingen brauchen sie erst mal mehr als rein den Doktor am Sterbebett. Menschen brauchen Pflege, Menschen brauchen Hospizarbeit, Menschen brauchen sehr viele Gespräche. Menschen brauchen also ein umfassendes Netz an Betreuung zu Hause, damit eben dieser Wunsch, den die meisten Menschen haben, zu Hause zu sterben, erfüllt werden kann.

Timm: Aber kann man wirklich jeden am Ende seines Lebens zu Hause versorgen? Ist das überhaupt realistisch?

Thöns: Das ist tatsächlich realistisch. Im Moment ist es so, dass in Großstädten wie Bochum 90 Prozent der Menschen in stationären Einrichtungen sterben, die dafür gar nicht ausgelegt sind, Akut-Krankenhäuser zum Beispiel. Und wir wissen aus guten Untersuchungen und auch aus den eigenen Zahlen aus Bochum, dass wir dieses unglückliche Verhältnis umdrehen können, dass also praktisch nur noch 15 Prozent der Menschen letztlich in ein Hospiz oder ins Krankenhaus zum Sterben müssen, und dass man diesen sehr teuren und ungewünschten Effekt eigentlich umdrehen kann.

Timm: Aber machen wir es mal konkret. Angehörige haben doch auch Angst, etwas falsch zu machen, wenn zum Beispiel ein Patient plötzlich keine Luft mehr bekommt, wenn es bei Krebskranken zum Lebensende hin plötzlich schwere Blutungen gibt. Das ist doch was ganz anderes, als wenn jemand an Altersschwäche leidet, immer ein bisschen mehr Unterstützung braucht und schließlich zu Hause im Sessel stirbt. Kann man das wirklich alles zu Hause leisten?

Thöns: Ja, tatsächlich kann man sehr viel zu Hause leisten. Es ist eben viel in der Arbeit so, dass wir solche Probleme, die Sie jetzt gerade genannt haben - Blutungskrisen, Schmerzkrisen, Luftnotanfälle -, dass man das bei vielen Krankheiten einfach schon mal vorausschauend einkalkulieren kann, dass das kommt. Und wir lassen dann einfach Patienten Medikamente zu Hause, im Kühlschrank, die Sie dann zum Beispiel als Nasentropfen geben können, wo der Patient dann bei einer Erstickungskrise in Minutenschnelle einschlafen würde und dieses Symptom wäre damit eben kopiert, er würde also nicht unter dieser Luftnot leiden müssen.

Timm: Das heißt, die Intensivmedizin, die es im Krankenhaus gibt, braucht man aus Ihrer Sicht am Ende des Lebens so nicht?

Thöns: In den allerseltensten Fällen braucht man Intensivmedizin. Die meisten Menschen wollen ja gerade das nicht und machen Patientenverfügungen und sagen, ich möchte eben nicht an Apparaten sterben, sondern wenn man so krank ist, dann möchte man eben irgendwo auch der Natur ein Stück weit den Lauf lassen, natürlich unter guter Kontrolle von Schmerzen und anderen schweren Symptomen.

Timm: Trotzdem ist Angst bei Angehörigen doch sicher ein Kriterium, wenn jemand zu Hause sterben möchte und es endlich doch nicht möglich ist.

Thöns: Angst ist ein ganz großer Faktor und es ist genau so, wie Sie sagen, bei Angehörigen,. Aber man muss eben mit den Menschen sprechen, man muss den Menschen zeigen, was sie für Unterstützung haben, man muss den Menschen eine Telefonnummer geben, wo sie rund um die Uhr anrufen können, Beratung am Telefon und Hilfe bekommen, pflegerische Hilfe bekommen, den Arzt bekommen oder eben auch Ehrenamtliche bekommen, die dann auch mal vier Stunden zu Hause sind bei den Leuten, wenn es ihnen schlecht geht.

Timm: Sie, Herr Thöns, sind gerne Palliativmediziner und Sie erleben nie die Genugtuung: Der Patient ist geheilt. Was macht Ihnen denn Ihre Arbeit so wertvoll?

Thöns: Ich habe einen sehr, sehr schönen Beruf als Palliativmediziner. Ich kann sehr oft mit verschiedenen Taktiken sehr schwere Symptome in einer sehr kurzen Zeit beheben und man bekommt dann von Menschen, denen es vorher richtig dreckig ging, unheimlich viel Liebe zurück, sage ich mal, unheimlich viel Dankbarkeit zurück. Das ist eine sehr befriedigende Tätigkeit.

Timm: Und Palliativmedizin wird wahrscheinlich immer noch allzu sehr mit Sterbehilfe gleichgesetzt statt mit Medizin für den letzten Lebensabschnitt eines Menschen?

Thöns: Genau, wir werden ja auch oft so mit dem Begriff Sterbehelfer bezeichnet. Da wehren wir uns natürlich kräftig gegen. Wir sind Sterbebegleiter, wir erleichtern diesen Weg, aber wir beschleunigen natürlich nicht den Weg zum Tod. Das sind Dinge, die ja in unserem Rechtsstaat gar nicht erlaubt sind.

Timm: Ist für Sie ein tröstliches Sterben sogar eine Freude als Erlebnis, kann man das so nennen?

Thöns: Tatsächlich ist es so, dass, wenn ich einen Patienten gut begleite und der friedlich dann einschläft ohne schwere Symptome, dass das für mich eigentlich ein Erfolg ist.

Timm: Wir reden derzeit so viel über Sterbehilfe, weil die Möglichkeiten der Palliativmedizin immer noch zu wenig bekannt sind?

Thöns: Sie haben völlig recht, es gibt viel zu wenig dafür. Es gibt keine verpflichtende Ausbildung für Ärzte, für Ärzte in Ausbildung, Palliativmedizin zu lernen, da ist auch sehr viel im Argen. Palliativmedizin ist kein Prüfungsfach, das heißt, man kann Arzt werden, ohne jemals etwas zur Schmerztherapie oder zur Palliativmedizin gelernt zu haben. Da ist tatsächlich vieles im Argen.

Timm: Und wann, um noch mal zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückzukommen, regelt sich der Krach mit den Krankenkassen, die manchmal zahlen und manchmal nicht?

Thöns: Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich dieser Konflikt in den nächsten Wochen klären wird. Ich weiß von Urteilen aus Hessen, ich weiß von Urteilen aus Dortmund, die ganz klar gegen die Krankenkassen gehen. Wir setzen im Moment unsere ganze Hoffnung auf ein Eilverfahren in Dortmund, wo einer Krankenkasse wahrscheinlich gesagt wird, dass sie jetzt eine Frist kriegt zum Umsetzen eines Vertrages. Und das wäre ein großer Sieg für die Palliativmedizin, wenn der Dortmunder Richter sich da einen Ruck geben würde und das Gesetz umsetzen würde.

Timm: Ein Gespräch im "Radiofeuilleton" mit dem Palliativmediziner Matthias Thöns, ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Kraft für Ihre Arbeit.

Thöns: Ich bedanke mich.