"Die meisten Ägypter finden sich nicht in dieser Wahl"

Hoda Salah im Gespräch mit Dieter Kassel · 12.06.2012
"Schock und Depression" hätten viele liberale Bürger angesichts des ersten Wahlgangs empfunden, sagt die ägyptische Politologin Hoda Salah. Doch die Opposition müsse optimistisch sein und sich einigen - gegen die Macht der Armee und autoritäre Islamisten.
Dieter Kassel: Zum ersten Mal können die Ägypter ihren Präsidenten frei wählen. Am Wochenende entscheidet die Stichwahl darüber, wer es wird. Aber eine richtig große Wahl gibt es da nicht mehr. Zum einen steht am Wochenende zur Wahl Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbruderschaft, und zum anderen Awad Shafik. Shafik war 40 Jahre lang bei den ägyptischen Streitkräften, war General, war mal Luftfahrtminister und war zuletzt der letzte Ministerpräsident von Husni Mubarak.

Keine besonders tolle Wahl, aber die einzige, die jetzt am Wochenende noch besteht. Kandidaten der Reformbewegung sind nicht mehr übrig, und was das für diese Bewegung und für die Stimmung in Ägypten bedeutet, darüber wollen wir jetzt mit der Politologin Hoda Salah reden. Sie lebt eigentlich in Berlin, ist aber jetzt seit vier Monaten schon wieder in Kairo, und dort begrüße ich sie jetzt am Telefon. Schönen guten Tag, Frau Salah.

Hoda Salah: Guten Tag, Herr Kassel.

Kassel: Es ist ja noch nicht mal hundertprozentig sicher, ob Amed Shafik überhaupt noch zur Stichwahl antreten darf, rein theoretisch wollte das Gericht in Kairo heute entscheiden, ob er als Kandidat überhaupt aufgestellt werden durfte oder nicht. Nun ist diese Entscheidung auf übermorgen, auf Donnerstag verschoben worden. Rechnen Sie denn noch damit, dass diese Entscheidung überhaupt eine Rolle spielt?

Salah: Es kann eine Rolle spielen, und es kann nicht. Das hängt davon ab, welche geheimen Verhandlungen es momentan gibt. Jetzt gibt es Verhandlungen mit der Moslembruderschaft und auch mit Shafik, wer die Rechte der Armee garantiert, und dann geht es auch um die finanzielle Macht in Ägypten. Und ich gehe davon aus, dass diese Verhandlungen mit den Moslembrüdern scheitern und das heißt, das Gericht wird die Zulassung von Shafik akzeptieren.

Kassel: Nun sagen manche voraus, wenn Shafik und Mursi beide antreten am Wochenende, könnte es gut sein, dass Shafik auch noch gewinnt. Was würde es denn bedeuten, wenn dieser Mann Präsident wird?

Salah: Viele sehen das als negativ oder als positiv an. Das heißt, wenn Shafik wirklich gewinnt, das sind ungefähr 25 Prozent der Ägypter, sie haben ihn gewählt. Und wir haben ungefähr 50 Prozent von Sozialisten, liberalen Kräften, auch die moderaten Islamisten sind dagegen, das waren ungefähr so 50 Prozent. Das heißt, man geht davon aus, wenn jetzt wirklich Shafik gewinnt, dann wird es in Ägypten eine nationale Bewegung geben, dass alle diese Kräfte wieder vereinigen und dass sie eine starke oppositionelle Macht gegen Shafik und die Armee bilden, das Symbol des alten Systems. Und das heißt, es kann sein, dass wirklich die Revolution jetzt konstruktiv umgeht mit dieser alten Macht und dass es wirklich eine Widerstandsbewegung gibt, dass vielleicht Shafik innerhalb von einem Jahr gestürzt ist und endlich die Ziele der Revolution erreicht werden. Das andere Szenario, was vielen Angst macht, ist natürlich, dass Shafik alle diese Kräfte in Gefängnisse bringt und dass er auch den autoritären Staat wiederherstellt. Aber wie ich das merke und wie Sie auch sehen, gibt es drei Kräfte in der ägyptischen Gesellschaft. Es ist das alte System, das sind 25 Prozent, die Radikalislamisten, das sind 25 Prozent, und dann haben Sie die dritte Kraft, das ist die soziale und liberale und dann die Kraft der Straße. Und diese Kraft, die ist wirklich momentan in Neuorientierung, um sich zu einigen, und da sehe ich das als Hoffnung für den Erfolg der Revolution.

Kassel: Wie groß schätzen Sie denn die Gefahr ein, egal ob Mursi oder Shafik die Wahl gewinnen, dass es dadurch auch zu einer richtigen Spaltung der ägyptischen Gesellschaft kommt? Denn Sie haben ja schon gesagt, egal, wer von den beiden gewinnt, die Mehrheit der Ägypter steht ja definitiv nicht hinter ihm.

Salah: Ja, genau, Sie haben recht, die meisten Ägypter finden sich nicht in dieser Wahl. Das ist ein Schock für viele, dass diese beiden Kandidaten gewinnen, aber wir gehen von Wahlverfälschung aus. Aber ich will das – ich sehe eine Spaltung der Gesellschaft, aber nicht jetzt im negativen Sinne, sondern wirklich Spaltung, die uns auch zu einer Einheit bringen kann. Weil wir waren gespalten, wir waren in den ersten Jahren der Demokratie und jetzt, wie Sie sehen, auch bei den Demonstrationen, alle Kandidaten einigen sich jetzt. Das heißt, es kann sein, dass wie gesagt, dass es jetzt einen Widerstand gegen die beiden Kräfte geben wird. Aber es kann auch eine blutige Zukunft sein. Wir sehen mal, was passieren könnte.

Kassel: Sie sagen das so relativ gelassen, aber müssen nicht die Menschen, die in den letzten eineinhalb Jahren auf dem Tahrir-Platz für eine Revolution, für das Ende des Mubarak-Regimes gekämpft haben, jetzt hoch frustriert sein. Denn man hat so den Eindruck, die ägyptische Gesellschaft dankt es ihnen nicht.

Salah: Ja, natürlich. Und ich sage Ihnen nun, das ist auch wieder diese Macht der Straße. Die Menschen sind momentan so unter Schock, die sind unter Aggression, die Straße in Ägypten ist so aggressiv geworden, auch die Ägypter gegeneinander, das heißt, momentan haben wir eine sehr aufgeheizte Atmosphäre, weil die Leute sind sehr enttäuscht. Aber Sie sagen, ich sehe das gelassen. Im Gegenteil, ich habe versucht, mich zu trainieren. Weil es gibt jetzt keinen Platz für Pessimismus. Wir müssen weiterkämpfen. Und ich sehe jetzt, dass viele, die unter Schock sind, die versuchen, wieder ihre Kraft zu sammeln und Widerstand zu leisten, um wirklich die Ziele dieser Revolution zu erreichen. Und das ist vor allem Gerechtigkeit und Freiheit für Menschen.

Kassel: Nun war es aber schon so, wir reden gleich darüber, wie viele Menschen wohl jetzt am Wochenende überhaupt noch zur Wahl gehen werden, aber in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, als es ein Ergebnis gab, dass dann zu dieser Stichwahl geführt hat, schon da haben über die Hälfte der Stimmberechtigten ihre Stimme nicht abgegeben. Was heißt das? Sagen Sie da auch Wahlfälschung, oder muss man sagen, die Mehrheit der Ägypter interessiert sich doch nicht für diesen Wandel.

Salah: Nein, nein, sie interessieren sich sehr, aber das war eine politische Bewegung, dass viele zeigen, sie wissen von Anfang an, dass diese Wahl verfälscht ist. Und dann Sie können sich vorstellen, wie die Armee uns strapaziert und wie Fehler auch von den anderen Kräften … dass sie das akzeptiert haben, dass sie strapaziert werden. Wieso gehen die Menschen zur Wahl, aber sie haben keine Verfassung. Wir wissen immer noch nicht, welche Befugnis hat der Präsident, welche Macht hat er? Was für einen politischen Film hat Ägypten? Und deshalb, viele, die nicht zur Wahl gegangen sind und jetzt nicht gehen, sie sagen, zuerst bitte die Verfassung und dann die Wahl. Und das ist jetzt, momentan auch für nächste Woche, eine politische Bewegung, dass, ich gehe davon aus, dass nicht mehr als 25 Prozent der Ägypter zur Wahl gehen, damit zeigen, wir boykottieren diese Wahl, weil wir nicht akzeptieren, dass wir zuerst wählen, danach schreiben wir eine Verfassung.

Kassel: Es gibt immer wieder Ägypter, wenn man im deutschen oder auch im englischen, amerikanischen Fernsehen Korrespondentenberichte sieht, Ägypter, die in Interview sagen, gerade die in den großen Städten, in Kairo, in Alexandria, an anderen Orten, wir erleben jetzt eine große Unsicherheit. Nicht eine politische Unsicherheit, sondern unser Leben ist gefährlicher geworden. Es gibt mehr Kriminalität, es gibt mehr Gewalt, die Polizei hat das nicht mehr unter Kontrolle, wir haben Angst. Und die sagen dann auch, unter Mubarak war es besser. Können Sie die verstehen?

Salah: Ich kann das verstehen, aber das ist, wie gesagt, das ist nicht die Mehrheit, das sind die 25 Prozent von Ägyptern, die Shafik gewählt haben. Und ich kann diese Leute verstehen, weil momentan gibt es nicht nur Unsicherheit, sondern auch wirtschaftliche Krise. Die Leute sind sehr müde von der Revolution. Auch sehr müde, sie haben große Angst. Aber, wie gesagt, es gibt auch große Kräfte, die das beruhigen wollen. Wir wollen auch, dass die Menschen glauben, dass die Sicherheit noch besser wird, wenn es jetzt demokratische Strukturen gibt. Ich kann diese Leute verstehen, aber es gibt noch andere Kräfte in der Gesellschaft, und das hat die Wahl gezeigt, dass ungefähr 50 Prozent für die Reformisten oder die revolutionären Kräfte gestimmt haben. Und ich denke, das wird jetzt in die nächste Zeit noch bestätigt sein, wenn sie sich einigen und auch eine Koalition zusammen bilden.

Kassel: Jetzt haben wir so viel darüber gesprochen, was passiert, wenn Shafik die Wahl gewinnt. Was passiert, wenn Mursi die Wahl gewinnt?

Salah: Das wird auch schwierig, weil leider, und das ist auch nicht nur meine Beobachtung, sondern es gibt viele Berichte, es gibt viele Ägypter, die haben so Angst vor Islamismus, und das heißt, viele Christen und Minderheiten, Frauen, die haben große Angst. Das heißt, es kann sein, dass auch Unruhe im Land gibt. Die Moslembruderschaft ist sehr bemüht jetzt, die Bevölkerung zu beruhigen. Auch die Christen, die Frauen, aber wie gesagt: Es gibt nicht nur einen Täter und es gibt nicht ein Opfer, sondern, wenn die Moslembrüder oder auch Shafik die Menschenrechte verletzen wollen oder die Wirtschaftskrise noch stärken wollen, ich denke, wenn jetzt, und ich sehe, dass jetzt die Koalition zwischen die Kräfte. Wenn sie stark ist, dann haben sie eine ganz starke oppositionelle Bewegung, auch die vom Staat auch gesteuert ist. Und die können auch viel Widerstand leisten.

Kassel: Aber trotzdem. Stellen wir uns mal vor, Mursi gewinnt die Wahl zum Amt des Präsidenten, die islamistischen Kräfte haben ja schon die Mehrheit im Parlament. Kann man gegen die dann wirklich noch was machen?

Salah: Ja. Und das sehen Sie auch. Sie sehen das zum Beispiel bei dem Verfassungsstreit. Das ist zweimal gescheitert, weil die Islamisten wollten dieses Komitee beherrschen. Obwohl sie die Mehrheit sind und obwohl die Armee das unterstützt, haben sie das nicht geschafft. Und deshalb, ich sage Ihnen, was diese Revolution uns alle gelehrt hat: Wir haben immer die Politik von oben interpretiert, was sagt die Armee, was sagt Mubarak, was sagt ... Aber was wir vergessen, ist die Macht der Zivilgesellschaft und der Straße. Und bis jetzt, nach zwei Versuchen haben sie es nicht geschafft, dieses verfassungsgebendes Komitee zu gründen. Und das ist die Macht, was ich Ihnen sage, das ist, die wir auch vergessen in unsere Analyse, die Macht der Straße und auch die verschiedenen Koalitionen. Und auch wenn die Armee das will oder die Moslembrüder oder Shafik, wir haben jetzt eine ganz starke Bewegung in der ägyptischen Gesellschaft.

Kassel: Ich höre Ihnen das an, und ich bin sogar ein bisschen überrascht, ehrlich gesagt, Frau Salah. Sie sind – ich weiß, sie waren sehr optimistisch vor den Wahlen, aber Sie sind jetzt nach den Wahlen in der jetzigen Situation immer noch optimistisch für die Zukunft Ägyptens?

Salah: Nein, ich sage Ihnen wirklich, und das ist eine sehr persönliche Aussage, nein, ich erlebe, dass hier viele Ägypter bei der Wahl, bei diesem Präsidentenwahlergebnis, ich sage Ihnen, ich und viele Leute, wir haben unser Haus zwei Tage nicht verlassen, weil wir so unter Schock und Depression gelitten haben. Aber wie gesagt, wir versuchen, uns zu einigen. Ich habe jetzt viele Kontakte, auch mit Herrn Baradei und seiner neu gegründeten Partei, und wir haben jetzt neue Strategien entwickelt. Dieser Optimismus, den müssen wir haben. Wenn wir uns – wenn wir das zulassen, dass wir sagen, okay, die Armee und der autoritäre Staat haben gewonnen, dann haben wir verloren. Wir haben vielleicht auch unser Leben zu verlieren, weil wir gehen ins Gefängnis. Aber wir haben noch die Hoffnung. Und die neue Strategie, und dass wir versuchen, wirklich von dieser Spaltung… die ich auch als Pluralismus finde, aber momentan können wir das nicht so lassen. Wir müssen uns einigen gegen diese Macht der Armee und auch der autoritären Islamisten.

Kassel: Die Politologin Hoda Salah live aus Kairo zur politischen Lage in Ägypten, wenige Tage vor den Stichwahlen zum Präsidentenamt. Frau Salah, ich danke Ihnen und hoffe, dass Ihr Optimismus und Ihre Kraft auf Dauer doch etwas verändern werden. Danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Salah: Ich danke Ihnen, danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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