"Die Massen sind bereit, sich einzumischen"

25.06.2013
In Brasilien gehen Hunderttausende auf die Straße, in der Türkei demonstrieren die Menschen gegen Premier Erdogan. Passend dazu stehen die Schillertage in Mannheim in diesem Jahr unter dem Motto "kritische Masse". Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter Burkhard Kosminski über Protest und Theater.
Marietta Schwarz: Die Internationalen Schillertage in Mannheim sind mehr als ein gewöhnliches Theaterfestival mit internationalen Produktionen, bereits vor zwei Jahren, als der Arabische Frühling in vollem Gange war, nahmen sie Bezug zu den Ereignissen, mischten sich mit ihrem Aufruf "Macht Geschichte!" in die Welle der internationalen Protestbewegungen.

Diesmal findet das Theaterfestival vor dem Hintergrund der Proteste in der Türkei und in Brasilien statt, das war bei der Vorbereitung wahrscheinlich nicht absehbar, und doch passt das zur Fragestellung der Schillertage, denn es geht diesmal um die kritische Masse– um Formen der Solidarität und Zugehörigkeit im Theater, aber eben auch jenseits dessen. Wie politisch, wie sozial ist Theater? Fragen dazu an Burkhard Kosminski, künstlerischer Leiter der Schillertage und Intendant am Schauspiel in Mannheim. Guten Morgen!

Burkhard C. Kosminski: Guten Morgen!

Schwarz: Herr Kosminski, kein Theater ohne die Anwesenheit eines Publikums, aber auch kein Protest ohne Demonstranten – ist das die Verbindung, die bei den diesjährigen Schillertagen in der Luft liegt?

Kosminski: Na ja, also Publikum ist notwendig für Theater, und Theater ist die älteste Form einer Versammlung, einer künstlerischen Versammlung, und die kritische Masse ist halt ein kritischer Blick des Publikums, die dann in alle Richtungen gehen kann.

Schwarz: Aber wir sehen ja, wenn ich jetzt mal in unsere deutsche Theaterlandschaft gucke, nicht unbedingt immer politische Aktionen, politisches Theater auf der Bühne.

Kosminski: Das ist natürlich richtig, es war unsere Überlegung: Wir sind ein produzierendes Festival, dass wir uns immer ein bisschen mit den theoretischen Schriften oder mit den Gedanken von Schiller auseinandersetzen und überlegen, was wäre interessant. Und der ursprüngliche Gedanke – da sind wir ein bisschen abgekommen – war, dass wir uns überlegt haben, ursprünglich mal, ob wir die gesamten Schillertage nur auf Plätzen machen, also eigentlich als Versammlungsort. Das wäre logistisch zu kompliziert geworden, und da haben wir dann gesagt, nein, das kriegen wir nicht hin, aber im Prinzip ist es schon so, dass wir gesagt haben, wir wollen eigentlich mal das Publikum ins Zentrum setzen.

Schwarz: Welche Antworten liefert denn Friedrich Schiller auf diese Frage nach der sogenannten kritischen Masse? Was hat es jetzt mit dem Publikum auf sich?

Kosminski: Mit dem Publikum hat es insofern etwas auf sich, dass wir gesagt haben, in der Auswahl dessen, was wir einladen wollen, was sind interessante Aufführungen, die sich damit auseinandersetzen. Wir haben zum Beispiel "Die Räuber" aus Teheran – zum ersten Mal sind die "Räuber" da gemacht worden – eingeladen, da spielen unverschleierte Frauen auch den Mohr, wir haben, wie ich finde, als Gastspiel gerade gestern, vom Gorki Theater "Die Räuber" dagehabt, was ja auch eine extremere Spielform ist mit drei Monologen und einem Chor, die auch mit sehr unterschiedlichen Spielstilen ausgehen. Wir haben aus Russland eine "Kabale und Liebe" von einem jungen Regisseur, dass man da reinguckt, da hat man das Gefühl, dass es sehr stark Russland spiegelt, so ein Oligarchensystem. Oder wir haben mit dem "Parasiten" eine Auftragsproduktion zusammen mit dem Staatsschauspiel Dresden, vielleicht den Wutbürger, den Parasiten auf der Bühne.

Schwarz: Aber ich müsste jetzt doch noch mal nach dem Publikum fragen: Was Sie mir eben erzählt haben, das sind ja doch im klassischen Sinne Theaterstücke, Schiller, politisch, in unterschiedlichen Ländern. Ich als Publikum sitze doch nach wie vor in den Reihen des Theaters und schaue mir das an. Da hat sich ja dran nichts verändert, oder?

Kosminski: Nein, daran hat sich nichts verändert, wir gehen natürlich in den Dialog, und wenn die Spielformen sich, sage ich mal, ändern, verändert sich natürlich auch das Verhältnis des Publikums zur Kunst. Gestern war – wenn wir jetzt mal "Die Räuber" von gestern Abend nehmen – eine sehr lautstarke Auseinandersetzung teilweise zwischen Publikum und dem Spieler oben, was halt kommentiert wurde, wieder zurückkommentiert wurde, das kann sich nicht ändern. Wir haben eine sehr schöne Reihe beim SWR2-Forum, "Demokratie – aber welche?", oder machen die "Utopie Station" – das direkte Verhältnis können wir nicht ändern, aber wir können natürlich durch diese Thesen, die wir da haben, ein gewisses Interesse an Schillers Werk öffnen, und haben vielleicht auch eine aktuelle politische Situation, die man natürlich so genau nicht vorausahnen konnte. Man hatte nur das Gefühl gehabt, dass die Welt in Bewegung ist und wir das ins Festival reinzirkeln wollen.

Schwarz: Gibt es denn so etwas wie einen Geist, der aus Brasilien oder aus der Türkei nach Mannheim rüber schwappt, oder umgekehrt, einen Geist des Theaters, zum Beispiel auf den Istanbuler Straßen? Sehen sie so etwas?

Kosminski: Ja, ich glaube, das ist natürlich eine zentrale Frage, die im Moment das Theater beschäftigt, dass eine wirklich große Veränderung der Gesellschaft stattfindet, und irgendwie habe ich immer so das Gefühl, dass, wenn Schillertage sind, dass dann komischerweise immer radikale Umbrüche sind. Vor zwei Jahren ging es genau bei den Schillertagen, kurz davor, in Ägypten los, jetzt war Türkei und Brasilien, und so Fragen, die wir uns halt gestellt haben – einfach nur wirklich als Metaebene –, worauf soll ich warten, bin ich viele, ist Widerstand zwecklos, also alte Thesen, die man noch aus den 80ern kennt. Aber das politische Engagement und das Demokratieverständnis haben sich ja auch eigentlich in den ganzen Städten verändert, wenn man jetzt in Mannheim schaut, gibt es jetzt einen Bürgerentscheid zur Bundesgartenschau. Also das heißt, auch in Deutschland hat sich viel verändert, und ich glaube, diese Form von Bürgerbeteiligung, oder dass es eine kritische Masse gibt, das zeigt sich auch durch das Festival.

Schwarz: Und ich würde da vielleicht sogar noch eines drauf setzen: Immerhin vollzieht sich der Protest ja auch vielerorts hochkreativ, hin bis zu spontanen Performances, wie man es jetzt gerade in Istanbul mit dem schweigenden Mann gesehen hat, aus dem dann plötzlich Hunderte Schweigende werden. Haben Sie eine Erklärung für diese Protestform, dafür, dass das boomt? Man sieht es ja auch an Femen oder Pussy Riot.

Kosminski: Ich glaube schon, dass durch die ganzen Umbrüche ein neuer mündiger Bürger entsteht und der auch wirklich Interesse hat, anders als in den Nuller-Jahren, wo man so mitgeschwommen ist, auch Interesse an neuer Gestaltung hat und auch an Veränderung, und ich glaube auch, dass die Politik sich verändern wird, dass es nicht mehr so sein wird, dass man einfach eine Entscheidung fällt und so ist es, sondern ich glaube, es wird sehr viel differenzierter in den Kommunen wie aber auch in den Ländern abgehen, und es ist nicht mehr möglich, dass einfach ein Politiker sagt, so wird es gemacht, und dann passiert es so und es gibt einen kurzen Protest oder auch in der Zeitung einen Aufschrei, ich glaube, die Massen sind bereit, sich einzumischen. Und natürlich, in Zeiten des Internets sind auch Proteste ja noch mal ganz anders zu organisieren, und meiner Meinung nach ist in der Türkei einfach eine Linie überschritten worden, und dann geht es los.

Schwarz: Sagt Burkhard Kosminski, Intendant am Schauspiel Mannheim und künstlerischer Leiter der Schillertage, die noch bis zum Ende dieser Woche in Mannheim stattfinden. Das Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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