Die Macht des Geldes und der Verlust der Liebe

23.04.2007
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks herrscht in Bulgarien eine permanente Übergangszeit. Das alte System ist zerfallen, doch eine neue stabile Ordnung ist noch nicht entstanden. Die einzige Konstante: das Streben nach Geld und Macht. Vladimir Zarev schildert in seinem Roman "Verfall" den Weg zweier Männer durch dieses Chaos.
Verfall, so heißt es ganz am Ende dieses Romans, "war das einzige passende Wort für die langsame und betäubende Atrophie seines Lebens, seines Verstandes, seines Willens." Verfall ist, und auch das wird erst langsam klar, "ein Vorgang voller Einzelheiten", die beschrieben werden können. Es handelt sich dabei um einen langandauernden gesellschaftlichen Prozess, der alles umwälzt: die Arbeitsverhältnisse, den Familienzusammenhalt und die Liebesfähigkeit. Die Übergangszeit ist zu einem Dauerzustand geworden, seit in Bulgarien 1990 "die Demokratie ausgebrochen ist", wie man dort sagt, als handle es sich um eine gefährliche Krankheit oder einen Krieg.

Als Krieg und als Krankheit erleben die Protagonisten in Vladimir Zarevs Roman "Verfall" ihre Gegenwart. Wenn die Arbeit nichts mehr wert ist und die gezahlten Löhne nicht zum Überleben reichen, ist nichts mehr in Ordnung. Dann lohnen sich nur noch Betrug und Verbrechen, die Mafia oder die Politik. Nicht zuletzt sieht sich auch der Schriftsteller einem völligen Bedeutungsverlust ausgesetzt. "Keiner legte mehr Wert auf die Sprache. Sie war zusammen mit dem Lev drastisch im Kurs gefallen", schreibt der Ich-Erzähler Martin Sestrimski, eine Art Alter Ego Vladimir Zarevs.

Martin, einst ein berühmter Schriftsteller, ist auf dem besten Wege, in Alkohol und Selbstmitleid unterzugehen. Seine Frau droht ihn zu verlassen, die älteste Tochter ist nach Amerika ausgewandert, und die geliebte zweite Tochter, kurzsichtig und drogensüchtig, macht es ihr nach. Von dem Geld, das ihr Vater ihr für eine Augenoperation beschafft hat, kauft sie sich ein Flugticket in die USA. Zarev beschreibt den Niedergang seines Romanhelden in allen drastischen Einzelheiten: vom Verlust der Arbeit bei einem Verlag, der sich nicht auf marktwirtschaftliche Bedingungen einstellen möchte, über wenig erfolgreiche Versuche als Werbetexter, Telefonseelsorger oder Beerdigungsredner bis hin zum verzweifelten Versuch, einen ganz großen Deal einzufädeln. Als moralisches Wesen erlebt er seinen eigenen Untergang: Schließlich ist er sogar bereit, seinen besten Freund zu betrügen. Je weniger Geld Martin hat, umso stärker ist er vom Geld besessen, das er braucht, um Ruhe zu haben und endlich wieder schreiben zu können: einen Roman mit dem Titel "Verfall".

Dieser Roman im Roman bildet die zweite Handlungsebene, die der ersten spiegelbildlich entgegengesetzt ist. Als Held fungiert ein alter Freund Martins, Bojan Tilev, der es nach der Wende durch windige Geschäfte zu märchenhaftem Reichtum bringt. Tilev ist ein skrupelloser Hund, ein geschmackloser Emporkömmling. Auf ekelhafte Weise unterwirft er sich Frauen, die er begehrt. Da ist Zarev kein Klischee zu billig, keine Szene zu dreckig. Bukowski meets Osteuropa: Man spürt, dass der hard-boiled Realismus hemingwayscher Prägung nachgeholt werden muss, weil er einst im Sozialismus nicht geduldet wurde. Zarev schiebt diesen Romanteil seinem Romanhelden in die Schuhe. Deshalb hat er die Freiheit, dabei so richtig über die Stränge zu schlagen.

Aber das ist längst nicht alles. Die Romankonstruktion ermöglicht es, viele verschiedene Gesellschaftsbereiche abzubilden und eben nicht nur diejenigen, in denen sich ein Schriftsteller oder ein Arbeitsloser zu bewegen pflegen. Wie es Zarev gelingt, die mafiotische Geschäftswelt und ihre Verflechtung mit der Politik darzustellen, das ist einzigartig und in dieser Schonungslosigkeit hierzulande noch nicht zu lesen gewesen. Vergleicht man "Verfall" mit Ingo Schulzes Wenderoman "Neue Leben", ist der Unterschied offensichtlich: Die deutsche Wende verlief eben – trotz aller Verwerfungen – vergleichsweise geordnet und übersichtlich. Wie roh aber die Herrschaft des Geldes ist, wenn sie ungeschminkt auftritt, das lässt sich bei Zarev studieren.

"Verfall" ist ein Roman über die Macht des Geldes und, damit zusammenhängend, den Verlust der Liebe. "Bedauerlicherweise hat sich herausgestellt, dass Geld die beständigste Form der Macht darstellt", sagt ein General im Innenministerium, der weiß, dass die politische Abdankung nichts zu bedeuten hat, weil die Macht sich längst in andere Bereiche verlagert hat. Die neu entstehende Ordnung dient ausschließlich der Vermehrung des Geldes und führt dazu, dass aller Reichtum sich in wenigen Händen konzentriert. Zarev ist ein so präziser wie gnadenloser Beobachter dieses Übergangs, und er findet immer wieder Bilder und Szenen, die unvergesslich sind: so etwa der arbeitslose Intellektuelle, der verschämt in einer Mülltonne wühlt und der den Erzähler an den eigenen Vater erinnert. Er vergleicht ihn mit einem Hirsch, dessen Geweih zu breit ist, um an den Inhalt der Mülltonne zu gelangen. Großartig auch der Besuch Tilevs bei einem deutschen Multimilliardär am Starnberger See, der den Unterschied zwischen Reich und Neureich, zwischen Selbstbewusstsein und Großkotzigkeit deutlich macht.

Am Schluss verfällt auch der Reichtum Bojan Tilevs, weil er einem noch gerisseneren Ganoven aufsitzt. Das ist die einzige Genugtuung, die der Schriftsteller Martin Sestrimksi sich schreibend gönnt. Im Untergang wird Tilev dann fast schon wieder sympathisch. Überhaupt ist dieser Tilev Sestrimski nicht unähnlich. Eigene Erlebnisse, die zunächst in Ich-Form geschildert werden, kehren im Tilev-Teil leicht verwandelt wieder. So gibt dieser Roman auch Auskunft über die Entstehung von Literatur aus der eigenen Erfahrung. Was am Ende Bestand hat, ist das Erzählte: "Wenn etwas nicht Sprache wird, dann ist es tot." Diese Gewissheit, immerhin, trotzt dem großen Verfall.

Rezensiert von Jörg Magenau

Vladimir Zarev: Verfall
Roman. Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007
512 Seiten, 24,90 Euro