Die Macht des Gedröhns

Von Sieglinde Geisel · 29.06.2010
Wenn Menschen aus dem Häuschen geraten, machen sie Lärm, deshalb gehört der Lärm zum Fußball. Im Stadion ist er mehr als ein harmloser Ausdruck der Begeisterung: Mindestens so sehr ist er ein archaisches Mittel der psychologischen Kriegsführung. Die Gesänge und Hymnen der Fans lassen eine Mannschaft über sich hinauswachsen.
Auf die gegnerischen Fußballspieler wiederum haben die gleichen Schallwellen die umgekehrte Wirkung: Sie werden als Demütigung empfunden, und die Niedergeschrienen verlieren den Glauben an sich selbst. Dies ist eines der Geheimnisse des Lärms: Er kann den Hörer in Euphorie oder in Panik versetzen, und zwar ohne dass dafür die Lautstärke eine Rolle spielt.

Denn das Drama des Lärms spielt sich nicht im Ohr ab, sondern im Gehirn, das den Schall interpretiert und verarbeitet. Wichtiger als Dezibelzahlen ist die Situation. Sucht man den Lärm freiwillig auf oder ist gar auf Seiten der Lärmverursacher, hört man etwas anderes, als wenn man dem Lärm unterworfen wird und keine Fluchtmöglichkeit hat.

Lärm kann eine Droge sein und süchtig machen – doch ebenso gut lässt er sich als Folter einsetzen. So widersprüchlich sie ist, die Wirkung beruht auf dem gleichen psychologischen Vorgang. Der Lärm bringt die Mauern zum Einsturz, die unser Selbst beschränken, deshalb erleben wir ein Rockkonzert als befreiend. Doch weil diese Mauern das Selbst auch schützen, kann man einen Menschen durch gewaltsamen Lärm in den Wahnsinn treiben.

Auch im Raum kennt der Lärm keine Grenzen. Die Schallwellen breiten sich überall aus, wo die Luft sie hinträgt, deshalb eignet sich der Lärm zur Ausübung von Macht. Wer sich in einem Territorium akustisch durchzusetzen vermag, hat die Herrschaft – über die Ohren und damit auch über das Bewusstsein aller, die sich in Hörweite aufhalten.

Gerade jedoch weil Lärm ein Machtinstrument ist, reagieren wir besonders empfindlich, wenn er von unten kommt. Wir sind alarmiert, wenn jemand sich eine Lizenz zum Lärm herausnimmt, die ihm von seiner gesellschaftlichen Stellung her nicht zusteht. Unsere Empfindlichkeit hat einen guten Grund: Wenn die Machtlosen Krach schlagen, droht der Umsturz. Kleine Kinder genießen ihr erstes Machtgefühl, wenn sie mit ihrem Geschrei die Erwachsenen in die Knie zwingen. Sie haben die politische Dimension des Lärms für sich entdeckt:

Lärm ist eine Ressource, die jedem zur Verfügung steht. Dieser Umstand macht auch die Vuvuzela der Südafrikaner zu einem wirksamen politischen Statement. Noch der Ärmste kann sich die Plastiktröte leisten – und noch der Kleinste kann mit ihr akustisch zum Riesen werden. Afrika ist ein Kontinent ohne Macht.

Vor der Vuvuzela jedoch sind alle Ohren gleich, deshalb zwingt sie nun die ganze Welt, den schwarzen Kontinent ernst zu nehmen, und sei es auch nur für vier Wochen Weltmeisterschaft. Die Vuvuzela ist ein Lärm von unten: Dass es ausgerechnet Afrikaner sind, die nun über unsere Ohren herrschen, ist für unsere Empörung über das Gedröhn durchaus von Bedeutung, denn von den Afrikanern müssen wir uns nichts sagen lassen.

Im Gegenzug erheben wir unsere eigenen Fußballhymnen – ebenfalls ein klassischer Lärm von unten – nun in den Rang eines abendländischen Kulturguts, das es gegen den ungehobelten, primitiven Lärm aus Afrika zu schützen gilt.

Und die Südafrikaner? Sie genießen mit dem betäubenden Lärmrausch ein Machtgefühl, dessen Genugtuung grenzenlos sein muss. Soll sich die Welt empören – sie denken nicht daran, ihre Tröten zu Hause zu lassen. Was bleibt uns? Vielleicht hilft es, wenn wir wenigstens psychologisch den Spieß umdrehen. Denn wenn wir mit der Vuvuzela Frieden schließen, fühlen wir uns ihrem Lärm weniger ausgeliefert und ersparen uns damit das Folter-Trauma. Wie sagte doch John Cage: "Wenn ein Lärm Sie stört, hören Sie ihm zu."


Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der "Neuen Zürcher Zeitung" reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die "Neue Zürcher Zeitung" tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village".