Die Macht der Rede

Wilfried Stroh im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 31.12.2009
Politiker, die "sehr glatte", "geschliffen formulierte" Reden halten, wirkten weniger glaubwürdig als stotternder sprechende, sagt Wilfried Stroh, klassischer Philologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu den geschliffenen Rednern gehöre Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FPD).
Liane von Billerbeck:

Wilfried Stroh: Grüß Gott, Frau von Billerbeck!

Billerbeck: Warum waren die Alten, also ich meine die Römer und die Griechen, derart verquasselt, also warum hatte die Redekunst bei denen ein so hohes Ansehen?

Stroh: Also die Griechen waren zunächst einmal Leute, die in ihre eigene Sprache vernarrt waren. Die Griechen nennen ja die anderen Völker im Gegensatz zu ihnen die Barbaren, und das heißt, die Leute, die nicht anständig reden können, die nur bar-brr-brr-brr sprechen, Barbarei und so weiter. Da sieht man also schon die natürliche Freude an der eigenen Sprache, und dazu kommen natürlich die Institutionen, die Rede fördern. Es sind die großen, großen Gerichtsverhandlungen, die wir in Athen haben, genauso in Rom. Es ist die Volksversammlung, es ist in Rom vor allem der Senat, in dem die größten Entscheidungen gefällt werden. Überall kommt es drauf an, sich mit der Macht der Rede durchzusetzen. Wenn man in der Antike die Rede so hoch geschätzt hat, so liegt es zunächst mal daran, dass man die Dinge richtig beurteilt hat. Auch heute kommt es ja für den Lebenserfolg wesentlich darauf an, dass man sich argumentativ und mit Geschick verbal durchsetzen kann.

Billerbeck: Was sind denn eigentlich die wichtigsten Aspekte einer guten Rede, die aus der Antike bis heute überdauert haben?

Stroh: Ich würde sagen, von den rhetorischen Grundregeln, den wichtigsten Regeln, gehört zum Beispiel dazu, dass man, wenn man eine Rede hält, nie mit einem schwachen Argument beginnen darf. Man darf auch nie mit dem stärksten Argument beginnen, das muss sich für den Schluss aufsparen, man muss mit dem zweitstärksten beginnen. Man muss die etwas schwächeren in die Mitte einpacken, sozusagen von beiden Seiten einrahmen. Das ist eine Grundregel, an die ich mich auch immer halte, wenn ich was durchsetzen will in Diskussionen oder sonst. Das andere betrifft zum Beispiel den Redebeginn. Am Anfang der Rede kommt es vor allem darauf an, dass ich mir mein Publikum günstig stimme, ich muss es wohlwollend machen, das ist ganz, ganz wichtig. Nichts ist so wichtig. Also wenn ich vor Ärzten spreche, dann muss ich meine Hochachtung vor dem Arztberuf durchscheinen lassen. Da werden die meisten Fehler gemacht an dieser Stelle. Das Zweite, was sehr wichtig ist: Man muss das Publikum von Anfang an packen, man muss es interessieren, man muss es aufmerksam machen. Auf keinen Fall darf man andeuten, dass man über diesen Gegenstand jetzt schon öfter gesprochen hat und dass der im Moment vielleicht das Publikum nicht so sehr interessieren wird und so weiter, das ist tödlich. Ich muss den Anschein erwecken, als ob uns das allen nicht so auf den Nägeln brennt wie jetzt das Problem, über das ich gerade zu sprechen habe. Also das sind so Grundregeln, die in der antiken Rhetorik gebracht wurden, die sich es lohnt, immer vor Augen zu haben. Und am Schluss muss man auch gut zusammenfassen. Sehr wichtig: Wenn man die Menschen zu einem bestimmten Verhalten bringen will, darf man es auch nicht versäumen, am Schluss irgendwie auf ihre Emotionen einzuwirken. Es genügt nicht nur, mit Argumenten recht zu haben, man muss immer auch die Gefühle der Menschen packen, was ganz Wichtiges – am Anfang und besonders dann auch am Schluss, wenn es auf die Entscheidung ankommt.

Billerbeck: Jetzt haben Sie inhaltlich uns erklärt, was eine gute Rede ausmacht. Nun besteht aber eine Rede ja vor allem also nicht bloß aus Inhalt, sondern auch aus Stimme, aus Timbre, aus Intonation, aus Pausen. Wie ist denn das bei den antiken Rednern, ist da eigentlich was überliefert, wie die gesprochen haben?

Stroh: Ja, das ist eine gute Frage. Wir haben in den Rhetorikern natürlich vor allem beim großen römischen Rhetoriker, kaiserzeitlichen Rhetoriker, bei Quintian, haben wir natürlich Hinweise, wie man zu sprechen hat, das ist richtig – wie man intoniert, wo man Pausen zu machen hat und so weiter, wann man volle Stimme gibt, wann man zurücknimmt und so weiter. Es werden sehr genaue Vorschriften dafür gegeben. Das haben wir also, wir haben auch genaue Vorschriften zum Beispiel für die Körperbewegungen. Quintian beschreitet zum Beispiel alleine für die rechte Hand 20 verschiedene Stellungen, die man geschickt einsetzen kann, unglaubliche Feinheit der Vorschriften. Aber natürlich, wir haben von keinem Redner unmittelbar eine Nachricht, wie er nun das und das gesprochen hat. Das Äußerste ist bei Quintian mal, der nimmt einen Abschnitt her aus einer Rede von Cicero, "Pro Milone", das ist der Eingang, und erläutert, wie man den richtig zu sprechen hat oder wie er annimmt, dass Cicero ihn gesprochen hat. Er gibt also sehr, sehr detaillierte Anweisungen. Und so hat er das mit seinen Schülern geübt, die haben also Redner rezitiert, vorhandene Reden, und daran die richtige Aussprache geübt. Also das ist das Äußerste, was wir haben, aber wir haben keinen Bericht natürlich drüber, wie Cicero oder Demosthenes oder ein anderer der großen Redner nun tatsächlich gesprochen hat.

Billerbeck: Musste man eigentlich immer geschliffen reden, also glatt und perfekt, oder gab es in der Geschichte der Rhetorik auch berühmte Redner, von denen überliefert ist, dass sie sagen wir gestottert haben?

Stroh: Also Demosthenes war bekannt, der war ein Stotterer von Haus aus, und Churchill auch. Das sind also berühmte Beispiele. Aber als sie große Redner waren, haben sie nicht mehr gestottert, sie haben sich das abtrainiert. Also dass ein Redner wirklich gestottert hätte und trotzdem Erfolg gehabt hätte, davon habe ich noch nie was gehört, das wäre sicherlich schlecht gewesen. Aber es kann durchaus mal effektvoll sein, wenn Redner mit den Worten ringt und nicht alles so glatt und geschliffen herauskommt, sondern man die Anstrengung spürt, die ihm jedes Wort macht. Die berühmten Reden von de Gaulle, die er in Deutschland gehalten hat etwa, da hat er sich ja jedes Wort rausgekämpft, weil er merkte, er kann ja gar kein Deutsch, nur wenig Deutsch und so weiter, hat dadurch ja trotzdem außerordentlich gewirkt. Und so kann das sicherlich auch mal Vorteil sein für einen Redner, wenn er nicht glatt spricht. Andere Redner, die sehr glatt sprechen, wunderbar, elegant, wo jeder Satz toll stimmt und so weiter, geschliffen formuliert und so was wie sagen wir mal Guido Westerwelle, wirken darum auch nicht so glaubwürdig wie andere, die stotternder sprechen etwas, aber richtig stottern darf er nicht.

Billerbeck: Die Macht der Rede. Der Altphilologe Professor Wilfried Stroh ist mein Gesprächspartner. Sie haben ja schon einige Redner aus der Gegenwart erwähnt. Deshalb die Frage: Wären die Demagogen dieses Jahrhunderts vielleicht möglicherweise weniger erfolgreich gewesen, wenn sie schlechte Redner gewesen wären?

Stroh: Nein, das glaube ich nicht. Die haben das getan, was sie wollten, und haben den Effekt erzielt, den sie wollten. Walter Jens hat mal, der große Rhetorikkritiker, hat mal nachweisen wollen, Hitler sei ein schlechter Redner gewesen, aber da haben ihn alle Kenner der neuen Geschichte ausgelacht. Das Unrhetorische bei Hitler, das Wider-Rhetorische bei ihm und anderen Demagogen ist, dass sie andere Meinungen haben nicht zum Wort kommen lassen. An sich darf man diese Mittel durchaus anwenden, die sie gebraucht haben, das einhämmernde Demagogische, aber sie haben ja jede Gegenmeinung ausgeschaltet. Wenn Goebbels gesprochen hat, dann kam keine andere Stimme mehr zu Wort, er hat eingetrichtert, was er für richtig hielt. Und das widerspricht dem Wesen der Rhetorik, die ja darauf beruht, ihr moralisches Recht daraus bezieht, dass eben immer beide Seiten zu Worte kommen. Eines Mannes Red’ ist keines Mannes Red’, man sollt’ sie hören alle bed’.

Billerbeck: Manche Reden, die sind aber auch folgenreich für die Redner, wahrscheinlich nicht nur die Reden, sondern vor allem das Tun desjenigen. Ich erinnere mich an die Rede von Ceausescu am 21.12.89, die ja Folgen hatte. Fünf Tage später hat ihn das Volk hinrichten lassen. Haben Sie diese Rede noch in Erinnerung?

Stroh: Ich habe mal eine Filmaufzeichnung gesehen, also in Zusammenhang der ganzen Vorgänge damals in Rumänien, wie diese Rede war. Da war er natürlich schon ziemlich angeschlagen und es war selbstverständlich eine schlechte Rede, die er gehalten hat, sonst hätte er es ja fertiggebracht, die Menschen noch einmal zu fesseln. Aber sie waren schon so aufgebracht gegen ihn, und nachdem man überhaupt eine Chance sah gegen ihn, da haben sie sich nicht mehr bändigen lassen. Aber das war sicherlich eine schlechte Rede. Aber der Ausschnitt, den ich gesehen habe, war jetzt so kurz, dass ich dann auch wieder nicht über das Ganze was sagen kann.

Billerbeck: Manche Politiker, wie sagen wir Barack Obama, sind ja auch wegen ihrer Reden, ihrer rhetorischen Fähigkeiten sehr erfolgreich, bei anderen allerdings, da scheint das völlig egal zu sein. Also wenn wir Angela Merkel nehmen, die ist ja nun bekanntermaßen keine sonderlich gute Rednerin, trotzdem hat ihr das nicht geschadet. Was meinen Sie, woran liegt das?

Stroh: Weil sie halt letztlich doch eine gute Rednerin ist. Sie bietet den Menschen das, was sie brauchen, eine gewisse Sicherheit und Solidität. Man nennt sie ja die Mutti und das ist sie auch. Ich weiß noch, wie ich gehört habe ihre Rede, in der sie versichert hat, dass mein Sparguthaben – das war vor einem Jahr, als die Lehmans-Geschichte lief – sicher sei, habe ich ihr das voll abgekauft, und damit hat sie eine gute Rede gehalten, denn sie hat mich überzeugt.

Billerbeck: Wer ist denn von den aktuell aktiven Politikern so Ihr Lieblingsredner, Ihre Lieblingsrednerin?

Stroh: Also ich würde sagen, von den Politikern des letzten Jahrzehnts waren die beiden besten sicherlich Oskar Lafontaine seit seiner Parteitagsrede von 95 und dann Joschka Fischer, das war doch immer sehr eindrucksvoll, was er gesprochen hat. Er ist einer, der ungeheuer stark attackiert, sehr überlegt und durchdacht wirkt und eine hohe Emotionalität hat, die die Menschen immer wieder mitreißt. Also das ist schon ein vorzüglicher Redner… [Anm. d. Red.: Auslassung, da unverständlich] sagen zwar da im letzten Jahrzehnt sein Einsatz damals vor dem Grünen-Parteitag für den Bundeswehreinsatz im Kosovo, das war schon vielleicht die rhetorische Glanzleistung der letzten zehn Jahre.

Billerbeck: Also hart an der Grenze zur Demagogie?

Stroh: Würde ich nicht sagen, nein, würde ich nicht sagen, hat die Menschen wirklich überzeugt und hat es aber so geschickt gemacht, halt Menschen, die so begeistert waren von pazifistischen Ideen, denen zu zeigen, dass hier nun einfach mal notwendig sei, anders zu verfahren – das war schon eine große Leistung.

Billerbeck: Ein Beispiel für die Macht der Rede. Die brachte der Münchener Altphilologe Wilfried Stroh. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und Ihnen einen guten Rutsch!

Stroh: Ihnen auch, auf Wiederschaun!