Die Lücken in der Familiengeschichte füllen

Johanna Adorján im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 23.02.2009
Die Großeltern der Journalistin Johanna Adorján begingen im Oktober 1991 gemeinsam Selbstmord. Adorján hat darüber nun ein Buch geschrieben. Darin imaginiert sie diesen letzten Tag der beiden und blättert die bewegende Lebensgeschichte ihrer Großeltern und ihrer Familie auf, in der es noch große Lücken zu füllen gab.
Klaus Pokatzky: An die Schlafzimmertür war ein Zettel geheftet mit den Worten: Bitte keine Wiederbelebungsversuche! Der Zettel trug das Datum vom 13. Oktober 1991. Im Ehebett lagen, Hand in Hand, Vera und Pista, die Großeltern von Johanna Adorjàn. Sie hatten sich vergiftet. Großvater Pista hatte Probleme mit dem Herzen, die Ärzte gaben ihm nur noch ein paar Monate zu leben. "Eine exklusive Liebe" hat die Enkelin Johanna Adorján ihr Buch genannt, das den Weg der Großeltern in den Tod und ein Leben im jüdischen Bürgertum in Budapest, ein Überleben im Konzentrationslager, die Emigration nach dem ungarischen Aufstand 1956 nach Dänemark beschreibt. Bevor wir mit Johanna Adorján sprechen, liest sie den Beginn ihres Buches.

Johanna Adorján: Am 13. Oktober 1991 brachten meine Großeltern sich um. Es war ein Sonntag. Eigentlich nicht der ideale Wochentag für Selbstmorde. An Sonntagen rufen Verwandte an, Bekannte wollen vorbeikommen, um gemeinsam mit dem Hund spazieren zu gehen, ein Montag zum Beispiel erschiene mir viel geeigneter. Aber gut, es war Sonntag, es war Oktober, ich stelle mir einen klaren Herbsttag vor, denn das Ganze ereignete sich in Dänemark, in Charlottenlund, wo meine Großeltern wohnten, einem Vorort von Kopenhagen, in dem alle Häuser einen Garten haben und man seine Nachbarn beim Vornamen nennt.

Ich stelle mir vor, dass meine Großmutter am Morgen als Erste aufwacht. Dass sie aufwacht und ihr erster Gedanke ist, dass dies der letzte Morgen ist, an dem sie aufwacht. Dass sie nie wieder aufwachen wird, nur noch einmal einschlafen. Meine Großmutter setzt sich schnell auf, schlägt die Decke zur Seite und schlüpft mit den Füßen in die Stoffschuhe, die sie jeden Abend ordentlich neben dem Bett abstellt. Dann steht sie auf, eine schlanke Frau von 71 Jahren, streicht sich das Nachthemd glatt, und durchquert leise, um meinen Großvater nicht zu wecken, die paar Meter zur Tür.

Im Flur empfängt sie schwanzwedelnd der Hund, Mitzi, eine Irish-Terrier-Dame, lieb, phlegmatisch, nicht besonders gehorsam. Meine Großmutter kommt gut mit ihr zurecht. Sie spricht Ungarisch mit ihr. "Jó kis kutya", sagt meine Großmutter, nachdem sie die Tür zum Schlafzimmer leise hinter sich geschlossen hat, guter kleiner Hund. Sie hat einen Bass wie ein Mann. Wahrscheinlich kommt das von den vielen Zigaretten, sie raucht eigentlich pausenlos.

Pokatzky: Ein Auszug aus der Hörbuchfassung des Buches "Eine exklusive Liebe". Johanna Adorján, herzlich Willkommen im Studio.

Adorján: Hallo!

Pokatzky: Ist das Buch ein Roman, ist es eine Dokumentation mit fiktiven Zügen, ist es ein Zwitter?

Adorján: Also ich weiß eigentlich nicht genau, was ich geschrieben habe. Es ist teilweise ja fiktiv, aber teilweise basiert es, so gut ich konnte, auf wahren Tatsachen. Ich glaube, dass das erzählendes Sachbuch offiziell heißt.

Pokatzky: Was ist das für ein Leben gewesen, das Sie in diesem erzählenden Sachbuch beschreiben? Können Sie es in vier oder fünf Sätzen erzählen, in der Kurzerzählung?

Adorján: Ja, ich fand, Sie haben das vorhin schon so schön formuliert. Also meine Großeltern sind Ungarn gewesen, jüdische Ungarn, die in Budapest gelebt haben. Dann durchkreuzte der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzung alle weiteren Pläne. Mein Großvater hat das KZ Mauthausen überlebt, meine Großmutter hatte sich versteckt. Dann kam der Kommunismus, 1956 sind sie beim Volksaufstand nach Dänemark geflohen. Und da haben sie ein neues Leben eigentlich angefangen, wo ich sie dann auch kennengelernt habe irgendwann, und waren, wie sagt man, vollkommen immigrierte Dänen.

Pokatzky: Bei Ihrem Großvater muss man das Stichwort Südkorea noch sagen.

Adorján: Ja, stimmt, er war auch noch im Koreakrieg, was sehr ungewöhnlich war, weil eigentlich Ungarn im Koreakrieg nichts zu suchen hatten. Aber die Ungarn haben ihren kommunistischen Brüdern ein ganzes Krankenhaus komplett mit Ärzten und allem zur Verfügung gestellt, und mein Großvater war Chirurg.

Pokatzky: Das ist ja auf der einen Seite - also wir sagten es ja schon - romanhaft, wirklich wie ein Roman, vor allem wenn Sie beschreiben diesen Tag, den letzten Tag im Leben Ihrer Großeltern, und dann sind es ganz beklemmende Reportageelemente. Wenn Sie mit Ihrem Vater das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen in Österreich aufsuchen. Was waren Ihre Quellen sonst noch?

Adorján: Die sonstigen Quellen war noch lebende beste Freunde von meinen Großeltern, die ich hier und da getroffen habe, und auch eine entfernte Verwandte noch in Paris. Dann waren - also ich möchte das jetzt nicht Quellen nennen, aber natürlich habe ich auch mit meinem Vater und meiner Tante, also den Kindern gesprochen. Ich erinnere mich auch selbst noch an meine Großeltern. Und das waren so die Hauptquellen.

Pokatzky: Wenn eine Journalistin schreibt über ihre eigenen Großeltern, die sich dann auch noch umgebracht haben, also nun wirklich die Tragik in der Familie überhaupt, was ist das für eine Herangehensweise? Haben Sie da noch Distanz, journalistisch-professionelle Distanz, sind Sie teilweise vereinnahmt worden?

Adorján: Also ich habe das Gefühl, da ja Schreiben mein Beruf ist letztlich, dass ich mir so mit dem Schreiben die Welt zu erklären versuche. Und beim Schreiben, finde ich, hat man eine ziemliche Distanz, weil man ja selber entscheiden kann, welches Wort man weglässt, was man hinschreibt usw.

Ausschlaggebend, das Buch zu schreiben, war tatsächlich, also die haben sich einfach eines Abends zusammen das Leben genommen, das wussten sie schon vorher, das war geplant, und irgendwie wollte ich mir immer selber vorstellen können, wie dieser letzte Tag aussah. Das ist natürlich eine traurige Geschichte auch, aber es hat auch was sehr, sehr Schönes, wenn man beschließt, sich mit dem Menschen, den man liebt und mit dem man sein Leben geteilt hat, dann auch das Leben zu nehmen. Und wenn das dann genauso abläuft, wie man es haben will ... Also ich konnte dem auch etwas Schönes abgewinnen.

Pokatzky: Ich spreche mit Johanna Ardoján über Ihr Buch "Eine exklusive Liebe". Frau Adorján, eine exklusive Liebe bedeutet auch den Ausschluss. Das heißt, Sie und Ihre Familienangehörigen waren quasi von dieser Liebe ja ausgeschlossen. Ist dieses Buch jetzt der Versuch sozusagen, Ihre Großeltern zurückzuholen oder vielleicht sogar zu vereinnahmen?

Adorján: Es ist der Versuch auf jeden Fall, sie etwas besser kennenzulernen und vielleicht zu verstehen, so würde ich es sagen.

Pokatzky: Und aber auch so ein bisschen nachträgliche Aneignung?

Adorján: Also zumindest der Familiengeschichte, über die nicht geredet wurde, oder es gab oder gibt auch immer noch Lücken, also ich weiß nicht alles über meine Großeltern. Und es gibt viele Kapitel in ihrem Leben, über die sie nicht geredet haben. Das ist zum Beispiel der Koreakrieg, über den mein Großvater nicht viel geredet hat. Noch viel weniger hat er aber über das KZ geredet. Ich glaube, ich wollte ein bisschen zumindest oberflächlich versuchen, diese Lücken in mir selber zu schließen.

Pokatzky: Beide haben ja insofern darüber geredet, als sie ein Diktum ausgesprochen haben: Davon sprechen wir nicht. Und jetzt kommt die Enkelin und spricht davon.

Adorján: Ja, Frechheit, oder?

Pokatzky: Ist es frech?

Adorján: Das weiß ich nicht. Es ist inzwischen, glaube ich, 18 Jahre her, dass die sich umgebracht haben, und über die Jahre ist das alles auch irgendwie zu meiner Geschichte geworden. Und ich glaube, so Lücken in Familiengeschichten, also wenn innerhalb von einer Familie nicht darüber geredet wird, dass zum Beispiel ein großer Teil der Familie jüdisch ist, weil es zu gefährlich war in einer anderen Zeit, dann vererben sich diese Lücken. Und das bleibt dann nicht bei meinen Großeltern, das haben sie nicht mit ins Grab genommen, sondern damit lebe ich heute.

Pokatzky: Ihre Großeltern haben sich bis zum Schluss gesiezt. War das k. und k., also die alte KuK-Monarchie?

Adorján: Das dachte ich immer, aber dann mir die beste Freundin meiner Großmutter erzählt, dass das alle immer total absurd fanden in Ungarn. Auch in ihrem gleichaltrigen Freundeskreis waren sie die Einzigen. Angeblich war der Grund, dass meine Großmutter elf Jahre jünger war und das ein Zeichen von Respekt fand. Ich glaube, dass sie es vielleicht auch selber sehr schick fand.

Pokatzky: Wenn Sie so zurückdenken in die Kindheit, wenn Sie die Namen Ihrer Großeltern jetzt hören, was ist das erste Bild, das da bei Ihnen im Kopf auftaucht?

Adorján: Die schöne Hand meiner schönen Großmutter mit einer brennenden Zigarette.

Pokatzky: Und der Großvater, der Ihnen, als Sie fünf waren, die Zigarre zum Mitrauchen gegeben hat?

Adorján: Genau, woraufhin ich sehr husten musste, woraufhin er mir ein Eis gekauft hat.

Pokatzky: Und dann haben Sie aber später auch selber angefangen zu rauchen?

Adorján: Ja. Ich habe dann mal geraucht und habe dann auch aufgehört.

Pokatzky: Der letzte Satz in dem Buch lautet, da zitieren Sie aus dem Polizeiprotokoll, die Polizei hat dann das Haus geöffnet, von dänischen Verwandten von Ihnen alarmiert, weil tagelang kein Lebenszeichen mehr kam. "Das letzte Blatt in der Akte, die die dänische Polizei über den Selbstmord meiner Großeltern angelegt hat und die in Helsingör archiviert wird, ist die Rechnung des Schlossers, der die Tür geöffnet hat. 297 Kronen hat es gekostet." Was ist in Ihnen vorgegangen, als Sie diese Akte gelesen haben?

Adorján: Komischerweise, also die wird archiviert in Helsingör, wo irgendwie die dänische Polizei alle ihre Akten archiviert, und komischerweise war das ein ganz glücklicher Tag in meinem Leben, als ich das gelesen habe, was absurd klingt. Aber aus dieser Akte ging einfach zum Beispiel hervor, dass die tatsächlich Hand in Hand in ihrem Bett gefunden wurden, und das wiederum bedeutet für mich übersetzt, dass sie keinen Schmerz hatten, als sie gestorben sind, sonst hätten sie ihre Hand ja weggezogen. Und insofern war das für mich sozusagen der Beweis, dass das ein schöner Tod war.

Pokatzky: War das Buch auch für Sie eine Bewältigung dieser ja doch schrecklichen Geschichte?

Adorján: Es war ein bisschen so, wie wenn man in einen Raum kommt, der dunkel ist, und dann macht man Licht an und guckt, was alles drin ist. Und danach fühlt man sich einfach ein bisschen wohler, auch wenn man gar nicht mehr in diesen Raum geht, einfach weil man weiß, was da drin ist.

Pokatzky: Johanna Adorján, Sie sind Berufskollegin, Journalistin bei der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Sie haben schrecklich viele Interviews gemacht. Wenn Sie jetzt eine letzte Frage in diesem Interview stellen müssten, welche wäre das?

Adorján: Wann hört diese Erkältung endlich auf?

Pokatzky: Dann wünsche ich gute Besserung, rate, nicht mehr so viel zu rauchen. Danke an Johanna Adorján. Ihr Buch "Eine exklusive Liebe" ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag, es hat 194 Seiten und kostet 17,95 Euro und als Hörbuch mit 280 Minuten 19,95 Euro