Die letzten Tage in Saus und Braus

27.09.2012
Ornithologen sind wie Schwebfliegensammler eine besondere menschliche Spezies. Luka Lewadski, Jahrgang 1914 und Protagonist in Marjana Gaponenkos Roman, ist solch ein ernst zu nehmender Eigenbrötler.
96 Jahre alt, ist der Professor emeritus der Zoologie noch immer neugierig und kontaktfreudig wie ein Kind, ohne kindisch zu sein. Der für das Brutverhalten und die Paarungstänze der Rabenvögel und Rotkehlchen, Pharaonennachtschwalben und Schmarotzerraubmöwen hochgradig Sensibilisierte kann nicht nur auf ein erfülltes wissenschaftliches Leben zurückschauen, sondern auch auf eine Jahrhundertbiografie. Lewadski hat zwei politische Utopien überlebt: Österreich-Ungarn und die Sowjetunion. Nun steht in seinem Pass als Heimatland Ukraine, was aus seiner Sicht nur politisch korrekt ist.

Obwohl ihm die Endlichkeit irdischen Lebens stets bewusst war und er in jungen Jahren Szenarien des Todes erlebte, bringt ihn die Nachricht des Arztes, er hätte ein Lungenkarzinom und nicht mehr lange zu leben, aus dem Gleichgewicht.

Das Genie plant einen letzten Streich. Im Sonntagsanzug und geschmückt mit seiner Lieblingsfliege "mit extravaganten rotschnäbligen Alpenkrähen" besorgt er sich erstmals eine Kreditkarte, kleidet sich neu ein und gönnt sich endlich einen Spazierstock mit Silbergriff. Dann reist Lewadski nach Wien, um im legendären "Hotel Imperial" seine letzten Tage in Saus und Braus zu verleben. Er bezieht jene Suite, wo er einst als international gefeierter Ornithologe residierte. Dort begegnet er einem gewissen Herrn Witzturn, der wie ein alter ego Lewadskis erscheint. In der Wiener Oper und an der Hotelbar bestreiten sie gemeinsam ein furioses, tragikomisches Finale.

Marjana Gaponenko erinnert mit ihrer kauzig-liebenswerten Romanfigur an eine untergegangene Epoche, wo die Vielfalt der Sprachen und Kulturen den Alltag prägte. Man kaufte beim Polen ein, vertraute dem russischen Sattler seine Wünsche an und ließ sich beim Juden im Ort das Brautkleid nähen. Obwohl Lewadski allein die Vogelsprache zum Lebensglück gereicht hätte, trägt er das Bild einer Welt in sich, in der man sich wie in einer Voliere mit seltenen Vogelarten friedlich bestaunte und aneinander bereicherte.

Luka Lewadski hat ein Alter erreicht, wo Denken, Sprechen und Schweigen ineinander übergehen. Das führt der Text in sensibler Weise vor. Denn Gaponenko beherrscht neben der Innigkeit des Monologs und einer raffinierten Strategie des Dialogisierens vor allem die Kunst narrativen Schweigens. Um die gelehrte Redseligkeit des alten Professors zu zeigen, wird nicht geplappert. Die Geschichte eines Jahrhunderts drängt sich dem Leser nicht auf. Lewadskis Erinnerungsschübe erscheinen in vielschichtigen Erzählbildern, freigesetzt durch eine Musik und Gerüche, oder – wie könnte es bei einem Ornithologen anders sein – durch den leisen Flügelschlag eines Rotkehlchens.

Besprochen von Carola Wiemers

Marjana Gaponenko: Wer ist Martha?
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
237 Seiten, 19,95 Euro