Die letzten Lebenszeichen der Großeltern

Von Katharina Schmidt-Hirschfelder · 26.11.2010
Vor zehn Jahren findet Torkel Wächter im Nachlass seines Vaters 32 vergilbte Postkarten - die letzten Lebenszeichen von Gustav und Minna Wächter. Auf der Internetseite 32postkarten.com macht er sie der Öffentlichkeit zugänglich.
"Ich wuchs in einem sehr schwedischen Kontext auf. Über sein Leben vor dem Krieg schwieg mein Vater. Was er weitergab, war nonverbal. Auch sein Hass auf Deutschland. Lange dachte ich, dass alles, was unserer Familie früher in Deutschland geschehen ist, einzig und allein schrecklich war. Erst später, vor allem durch die Arbeit mit den Briefen, verstand ich, dass Kindheit und Jugend meines Vaters durchaus glücklich waren, dass meine Vorfahren jahrhundertelang ein gutes Leben hatten."

Die Briefe – das sind 32 vergilbte Postkarten, sogfältig verfasst in Sütterlinschrift, die Torkel Wächter vor rund zehn auf einem Stockholmer Dachboden im Nachlass seines Vaters Walter fand.

Es sind die letzten Lebenszeichen seiner deutsch-jüdischen Großeltern, die Torkel Wächter da in den Händen hielt. All ihre Hoffnungen, Wünsche und Sorgen pressen Gustav und Minna Wächter im Zeitraum von März 1940 bis September 1941 auf 14 mal 9 Quadratzentimeter Papier. Sie geben sich sichtlich Mühe, ihren Sohn Walter im fernen Schweden nicht zu beunruhigen.


"Meine Großmutter Minna war gewissermaßen die Weitsichtigste von allen. Sie schreibt sehr knapp, kurzangebunden, mitunter in verschlüsselten Metaphern vom Wetter oder der Katze, oft zwischen den Zeilen. Ihre Briefe strahlen so etwas wie beherrschten Optimismus aus."

Zuerst dachte Torkel Wächter an Zündstoff für einen neuen Roman. Doch bald entpuppten sich die Briefe nicht nur als Teil einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte, die Torkel nur bruchstückhaft kannte, sondern auch als wertvolles Zeitdokument. Dass der Autor daher für dessen Aufarbeitung das Internet vorzog, begründet er so:

"Ich bin sehr froh, eine Form gefunden zu haben, die dem Briefwechsel gerecht wird. Die Texte sind kurz, gut lesbar und sprechen für sich selbst; das prädestiniert sie geradezu für das Internet. Es kam mir vor allem darauf an, die Postkarten für sich selbst sprechen lassen, ohne mich zu viel einzumischen oder zu kommentieren."

Dadurch gelingt es Wächter, die bewegenden Dokumente nicht nur dem Staub der Zeit zu entreißen, sondern sie darüber hinaus dem breiten Publikum zugänglich zu machen. Neben den Großeltern kommen Cousinen, Brüder und Nachbarn zu Wort, erzählen von Theaterabenden im Hamburger Jüdischen Kulturbund, erkundigen sich nach dem Verbleib von Walters Palästina-Zertifikat, halten ihn über die Brüder in Südamerika auf dem Laufenden und erwähnen flüchtig ihre Vorbereitungen zu Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest. Alles unter immer bedrückender werdenden Lebensbedingungen.

"Durch das Projekt habe ich viele Menschen kennengelernt, in Deutschland, Israel, den USA. Es gab so viele jüdische Familien, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie meine Großeltern. Wir, die Enkelgeneration, haben nun die Chance, unsere Erfahrungen auszutauschen. Das ist es auch, worauf ich bei 32postkarten.com hoffe. Ich rechne fest damit, dass die Website zu Begegnungen führt, die heute noch nicht absehbar sind."

Seit März sind die letzten Briefe seiner Großeltern per Mausklick zugänglich - häppchenweise. Denn die Finesse einer Art "parallelen Zeitreise" soll dem Leser den direkten Zugang zu gelebter deutsch-jüdischer Geschichte leichter erschließen. Wie feiert Minna ihren 60. Geburtstag? Überlebt Walters Lieblingscousine Edith in Amsterdam? Gelingt es Max, Visa für Argentinien aufzutreiben?

"Ich hoffe, dass es gerade junge Leute interessant finden, der Entwicklung auf der Website zu folgen. Das sieht ja ungefähr aus wie ein Blog, eine Art parallele Reality-Geschichte oder Fortsetzungsroman, in simulierter Echtzeit – jede Karte wird genau an dem Tag ins Netz gestellt, an dem sie vor 70 Jahren geschrieben wurde."

Ein Experiment mit offenem Ausgang also, das sich über einen Zeitraum von anderthalb Jahren erstreckt. Torkel Wächter hat mit dem Projekt 32postkarten das Schweigen seines Vaters gebrochen. Mit umwälzenden Konsequenzen. Er hat inzwischen Deutsch gelernt, schickt seine Kinder auf die deutsche Schule Stockholm und fühlt sich wohl auf seinen Deutschlandreisen.

"Ich will mit 32postkarten vor allem zeigen, dass es da diesen tiefen Bruch gegeben hat in meiner Familie: zwischen ihrer jahrhundertelangen Verwurzelung in Hamburg und dem Tag, an dem mein Vater und seine Brüder aus Deutschland hinausgeworfen wurden. Dazu gehört auch, dass ich und meine Kinder heute wieder an diese Geschichte anknüpfen."

Zum Thema:
Internetseite von Torkel Wächter