Die letzte Meile entscheidet

Von Udo Pollmer · 16.11.2013
Verbraucherschützer fordern beim Einkauf ein Umdenken: Wir sollen nicht nur makelloses Obst und Gemüse aus hiesigem Anbau kaufen, sondern auch ganz bewusst optisch mangelhafte Ware. Der Wunsch zur Makellosigkeit führt dazu, dass Obst und Gemüse aus weiter Entfernung angeschifft werden muss - und dann belasten besonders Öko-Produkte die CO2-Bilanz.
Obst und Gemüse müssen heute die Handelsklassen Extra oder I erfüllen. Was nicht den Ansprüchen der Kunden genügt, gelangt schon gar nicht mehr auf den Markt. Es wird einfach weggeworfen. Dabei bedeuten kosmetische Mängel keine Einbuße bei Geschmack oder Nährwert. Während wir Teile unserer eigenen Produktion aufgrund von Schönheitsfehlern entsorgen, importieren wir 60 Prozent des Gemüses.

Können wir unser Gemüse nicht selbst anbauen? Natürlich. Vor 50 Jahren war die Landschaft um Wolfenbüttel der Gemüsegarten Deutschlands. Damals gab es dort 40 Fabriken, die Gemüse verarbeiteten. Von all der Herrlichkeit ist heute nur noch das Gärtnermuseum geblieben. Eigentlich ist der Lehmboden des Bördegürtels von Hildesheim bis Magdeburg ideal für Gemüse. Während der Ernte konnte aber nur ein kleiner Teil abgesetzt werden, also kam der Rest in die Dose. Die damalige Produktion entsprach exakt dem heutigen Ideal von Regionalität und Saisonalität.

Abkehr von Dosengemüse und Tiefkühlkost
Eines schönen Tages war Dosengemüse out, dem Kunden stand der Sinn nach pflückfrischer Ware. Eine Alternative zur Büchse böte die Tiefkühlkost, aber auch da gibt es ein Problem: Wenn‘s regnet, sind die schweren Lehmböden der Börde nicht mehr befahrbar – und schon stockt bei schlechtem Wetter die Ernte. Doch Maschinen und Personal in den Fabriken müssen ausgelastet sein. Sonst geht die Ökobilanz in die Grütze und die Wirtschaftlichkeit ist perdu. Heute ist mit Tiefkühlkost auf Deutschlands besten Gemüseböden kein Blumenkohl mehr zu gewinnen.

Das Ernten von Gemüse erfordert vielfach Handarbeit, also wurde die Produktion in die Dritte Welt verlagert. Die eingesparten Löhne erlauben es, die Ware per Flieger nach Europa zu verfrachten. Seither gibt’s das ganze Jahr über pflückfrisches Gemüse. Ware mit optischen Fehlern oder anderen Mängeln wird in den Erzerzeugerländern natürlich nicht weggeworfen, sondern vor Ort vermarktet. Gut für die Ökobilanz.

Doch der weite Weg von Afrika, Asien oder Südamerika belastet das Ökogewissen vieler Verbraucher. Vergessen wird dabei meist der eigene Einkaufsweg, die sogenannte "letzte Meile". Diese letzte Meile ist zwar sehr kurz in Vergleich zu einem Frachter, der 20.000 Kilometer um die halbe Erde schippert. Aber wenn man bedenkt, dass ein Bananen-Frachter gewöhnlich 22 Millionen Bananen transportiert, ist der Weg von der Wohnung zum Supermarkt, den Millionen von Kunden bei Einkauf zurücklegen, von größerer Bedeutung.

Die CO2-Bilanz wurde an der Uni Gießen mal genauer berechnet. Ergebnis: Der Einkauf, die sogenannte letzte Meile entscheidet – und nicht der Weg der Früchte von Honduras nach Hamburg. Wenn man bedenkt, dass sich aus einer Schiffsladung mit 80.000 Tonnen Weizen anderthalb Milliarden Brötchen backen lassen – dann ist einsichtig, dass die Wege der Kunden zum Bäcker zusammengerechnet eine mehrfache Erdumrundung ergeben.

Weiter Weg zum Bioladen
Die mit Abstand schlechteste Kohlendioxid-Bilanz haben laut dieser Studie umweltbewusste Zeitgenossen, die im Bioladen einkaufen. Der Weg ist weiter und sie kaufen meist weniger ein – da half auch die häufigere Nutzung eines Fahrrads nicht. Generell gilt: je kleiner die Mengen desto schlechter die Bilanz – egal ob Anbau, Verarbeitung oder Distribution.

Wer die CO2-Bilanz zum obersten Maßstab seines Handelns erhebt, sollte die Folgen bedenken: Denn dann ist alles, was uns Freude macht, was wir nicht notwendigerweise zum Leben brauchen, "klimapolitisch unkorrekt". Dann müssten nicht nur die Modeboutiquen geschlossen werden, weil der Einkauf im Kaufhaus ökologischer ist, wir sollten dann diese Klamotten solange tragen, bis sie durch sind. Die vorbildlichste Ökobilanz hat ein Obdachloser im Stadtpark, der sein Essen im Müllcontainer eines Discounters sucht. Mahlzeit!

Literatur:
Keckl G: Vegetarische Legenden. EU.L.E.nspiegel 2012; H. 4-6: 3-27
Sima A et al: Einkaufswege als Teil des Consumer Carbon Footprints (CCF) - Zum Anteil des Endverbrauchers an der Klimarelevanz von Prozessketten im Lebensmittelbereich. ErnährungsUmschau 2012; 59: 524-530
Mohr M: Consumer Carbon Footprint beim Einkauf von Bioprodukten. Shaker Verlag, Aachen 2013
Schlich E, Fleißner U: The ecology of scale: assessment of regional energy turnover and comparison with global food. The International Journal of Life Cycle Assessment 2005; 10: 219-223
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